Kaspar Hauser

 

Kaspar Hauser – das Kind von Europa

 

ein Vortrag von Lydia Spiekermann, 26. Jan. 2020,

 

gehalten im Rahmen der Kunstausstellung „Der Fall Kaspar Hauser“

mit Werken von Annette Bülow, Ans de Groot, Margarete Kahn und Lydia Spiekermann

 

 

Erkundet man die zahlreichen Interpretationen von Kaspar Hausers kurzem Leben, so gerät man in ein Wirrwarr von Widersprüchlichkeiten.

Zwar liegt eine Menge an Archivmaterial vor - darunter zahlreiche Schriftstücke namhafter Zeitgenossen, aber auch solche, die man zweifelsohne Kaspar Hauser selbst zuschreiben kann, und doch wirft das Schicksal dieses Findelkindes viele Fragen auf.

 

Grob lassen sich zwei Theorien für den „Fall Hauser“ ausmachen: 

1. die Erbprinzentheorie

2. die Betrugstheorie. 

 

Die Erbprinzentheorie besagt, Kaspar Hauser sei aufgrund von Erbfolgestreitigkeiten als Kleinkind entführt und gefangen gehalten worden. Er sei der rechtmäßige Sohn des badischen Königshauses. 

Die Vertreter dieser Theorie berufen sich auf namhafte Zeitzeugen.

Dass seine Initialien K.H. Königliche Hoheit bedeuten könnten, bleibt eine vage Vermutung.

 

Die Betrugstheorie hingegen besagt, Kaspar Hauser sei nichts weiter als ein betrügerischer Bauernjunge, dem es allein um den eigenen Vorteil gehe, der keinerlei adeliges Verhalten zeige und weit davon entfernt wäre die badische Thronfolge für sich behaupten zu können. Es geht diesen Theoretikern nicht um Klärung der Entführung, sondern ausschließlich darum, die behauptete Integrität des Jungen in Zweifel zu ziehen. 

 

Beide Theorien fanden und finden noch heute eine große Anhängerschaft.

 

Wikipedia schlägt sich bei aller Rundumschau auf die Seite der Betrugstheoretiker. Auffallend ist, mit welcher Akribie man hier Argumente gegen die Erbprinzentheorie setzt. Dabei wird die überzeugende Kraft der soliden Zeitzeugen hintangestellt.

 

Ein Curiosum bleibt, dass die Möglichkeit, dass Kaspar Hauser von seinen Entführern erpresst wurde oder dass er sich in einer seelischen oder körperlichen Abhängigkeit von ihnen befand, fast gar keine Beachtung findet. Sowohl seine dokumentierte außergewöhnliche Harmoniebedürftigkeit als auch die vielfach erwähnten Notlügen und Ängste hätten eigentlich den Verdacht auf einen erlittenen Missbrauch lenken können. Das geschieht nur im vorsichtigen Ansatz bei Feuerbach:

 

Welche anderen Verbrechen allenfalls noch hinter der an Kaspar verübten Missetat versteckt sein mögen, auf welche Zwecke die verborgene Gefangenhaltung Hausers berechnet gewesen, diese Fragen würden uns zu weit in das luftige Gebiet der Vermutungen oder in gewisse geheiligte Räume führen, welche eine solche Beleuchtung nicht vertragen.

 

Das ungelöste Verbrechen und das Rätsel um die Herkunft von Kaspar Hauser haben sicherlich dazu beigetragen, dass die Geschichte dieses Jungen bis auf den heutigen Tag auf Interesse stößt. Aber sie können nicht ausschlaggebend dafür sein, dass aus Kaspar Hauser ein Mythos wurde. Ungelöste Verbrechen und rätselhafte Geschichten gibt es viele, aber nur solche weiten sich zum Mythos aus, in denen ein Strahl von Erkenntnis aufblitzt. 

Wir müssen also tiefer bohren und fragen: Was ist das Besondere an Kaspar Hauser?

Sicher ist es der Tatbestand, dass hier ein Mensch mit etwa 17 Jahren aus einem unbekannten Dunkel, in welchem er keinen Menschen von Angesicht sehen durfte und in welchem er immer wieder in einen Opiumschlaf geschickt wurde, in einem fast tierischen Zustand ans Licht der Welt gesetzt wird. In jeder Beziehung ist er angewiesen auf die Hilfe von Mitmenschen. Es scheint aber darüber hinaus der besondere Charakter und die Hochsensibilität dieses Jungen, vielfach dokumentiert, gewesen zu sein, die zur Mythenbildung beigetragen haben. (Fuhrmann)

 

Für die Anthroposophen wird das Findelkind in seiner Hilflosigkeit zum Prüfstein für menschliches Verhalten. 

Wortführend sind heute Johannes Mayer und Peter Tradowsky, profunde Kenner des Archivmaterials. Sie begreifen Kaspar Hauser als eine messianische Lichtgestalt, als eine seelische Existenz, die über den Zeitraum von Geburt und Tod nach beiden Seiten hinausragt. Kaspar Hauser stehe exemplarisch für die paradiesisch-kindliche Unschuld, die dazu berufen sei, den Kampf zu führen gegen Sünde und Gewalt, welche von außen und von innen den Menschen bedrohe. In seiner reinen Unschuld halte Kaspar Hauser der Gesellschaft unbewusst den Spiegel vor und erinnere somit an Christus und den mit ihm verbundenen Erlösungsglauben. Da der Findling zu Pfingsten in Nürnberg aufgetaucht sei, stehe sein Erscheinen mit dem Pfingstgeschehen in Verbindung: Durch ihn wirke der Hl. Geist in der Welt. Durch ihn trenne sich Gut von Böse. Seine Unschuld fordere auf der einen Seite die Liebe, auf der anderen Seite den Hass heraus. 

Diese spirituelle Sichtweise mag als Überhöhung einer Person beurteilt werden. Die Anthroposophen haben jedoch damit den Grundstein gelegt, dem Schicksal Kaspar Hausers eine besondere Bedeutung für das Verständnis von Mitmenschlichkeit beizumessen. 

Diese Mitmenschlichkeit ist eine spezifische, insofern als sie eng verklammert ist mit den europäischen Werten. 

 

 

Kaspar Hauser gilt als „das Kind von Europa“. 

Woher kommt diese Bezeichnung? Was besagt sie?

 

Die erste umfassende Kunde von Kaspar Hauser hat Professor Daumer in seinem Buch „Mitteilungen über Kaspar Hauser“ niedergelegt. Er betreute den Findling vier Jahre lang, von 1828 – 1832. Er darf als genauer und anteilnehmender Beobachter der körperlichen und geistigen Entwicklung seines Pfleglings gelten. Er beschreibt Kaspar Hauser als einen gutmütigen, aber äußerst empfindsamen Siebzehnjährigen, der vom Bildungsstand eines Dreijährigen rasch zu dem eines Zehnjährigen aufstieg und an welchem sich dann herausragende Talente und Tugenden zeigten. Er sei technisch und zeichnerisch sehr begabt gewesen, lernbegierig, gehorsam, mitfühlend und niemals rachsüchtig. 

Daumer sah in dem Findling ein Wesen ungetrübter Menschennatur, das später in die Fänge des zweifelhaften Lord Stanhopes geraten sei, der offensichtlich seine eigenen Interessen oder die einer Macht im Hintergrund verfolgt habe.

 

Im Vorwort zu einer Ausgabe von Daumers „Mitteilungen über Kaspar Hauser“ schreibt Peter Tradowsky 1983, dass die schönste Antwort auf diese Kunde Daumers der geheimnisvolle, untergründige Ausspruch sei: Das Kind von Europa. (S. 8)

 

Dieser Begriff taucht bei Daumer selbst noch nicht auf, wohl aber bei Anselm von Feuerbach in seinem Buch: „Kaspar Hauser“, 1832.

Feuerbach war Präsident des Appelationsgerichts zu Ansbach. Er galt als Kämpfer für Humanität und Menschenrechte. Er war erschüttert vom Schicksal des jungen Mannes und machte es sich fortan zur Aufgabe, seine Hand schützend über den Hilfsbedürftigen zu halten. Zeitlebens suchte er nach den Gründen dafür, dass man dieses Kind gewaltsam an seiner Entwicklung gehindert hatte, indem man es in einem Zwischenzustand zwischen Leben und Tod, Wachen und Schlafen hielt. 

1831 rief Feuerbach zu einer europäischen Kollekte für Kaspar Hauser auf, dessen Fall nun weit über die Landesgrenzen hinaus auf Interesse stieß. Sein Plan wurde jedoch durch den Berliner Polizeirat Merker zunichte gemacht. Der gab eine Schrift heraus: „Kaspar Hauser, nicht unwahrscheinlich ein Betrüger“. Feuerbach setzte Gutachten von Ärzten dagegen und begann mit der Niederschrift des Buches „Kaspar Hauser – Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen“. Nach gründlicher Einsicht in die einschlägigen Dokumente war er zu der Überzeugung gelangt, dass Kaspar Hauser der vorberechtigte Thronerbe Badens sei, (der 1812 geborene Sohn des Großherzogs Karl und seiner Gemahlin Stéphanie de Beauharnais). Später wurden Vermutungen angestellt, dass Feuerbachs Veröffentlichung einer Erbprinzentheorie möglicherweise zum Mord an Feuerbach selbst und wenig später zum Mord an Kaspar Hauser geführt hat. Weder die Todesursache von Feuerbach, noch die von Kaspar Hauser konnte zweifelsfrei geklärt werden. Allerdings liegen ärztliche Dokumente vor, welche starke Indizien für eine Mordtat an Kaspar Hauser aufweisen. Feuerbach hatte von Beginn seiner Nachforschungen an vermutet, dass hinter der Entführung von Kaspar Hauser nicht ein einzelnes Individuum, sondern eine reiche Macht mit einem großen Netzwerk stünde und dass der Junge mit steigendem Erinnerungsvermögen und Bewusstsein einer großen Gefahr ausgesetzt sei. 

Bei Feuerbach wird nun auch erstmalig explizit das Kind von Europa erwähnt. Wir lesen in seiner Schrift:

Er gewann sich menschliche Teilnahme, wurde Gegenstand öffentlicher allgemeiner Aufmerksamkeit; die Tagblätter füllten sich mit Nachrichten und Nachfragen über den rätselhaften jungen Mann; erst ein Adoptiv-Kind Nürnbergs, wofür ihn der Magistrat dieser Stadt in seiner öffentlichen Bekanntmachung erklärt hatte, wird er endlich sogar das Kind – Europas. “ (S.94)

 

In der oben erwähnten amtlichen Bekanntmachung wurden Kaspar Hauser höchste Tugenden beigemessen. Darüber hinaus wurde das Verbrechen an ihm in seiner ganzen psychologischen Tiefe beschrieben. Das erschütternde Schicksal des Jungen ging wie ein Lauffeuer durch Europa und wurde als Appell an die Menschlichkeit verstanden. 

 

Der deutsch-jüdische Schriftsteller Jacob Wassermann (1873 - 1934) greift am Ende seines Romans „Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens“ (1908) die Formulierung vom Kind von Europa auf. Er sah in der literarischen Aufarbeitung der historischen Figur des Kaspar Hauser die Möglichkeit, die Vorurteile gegen Fremdheit besiegen zu können und einen Weckruf an Europa zu richten, gegen die weit verbreitete „Trägheit des Herzens“ anzugehen. Kaspar Hauser wird bei Wassermann exemplarisch zu einem Opfer von Verhärtung der Herzen. 

 

 

1984 brachten die Anthroposophen Johannes Mayer und Peter Tradowsky das Buch heraus: Kaspar Hauser, das Kind von Europa. Nach einer detaillierten und auf zahlreichen Dokumenten basierenden Darstellung der fünf Lebensjahre des Findlings in Nürnberg und Ansbach endet das Buch mit dem Kapitel:

Aenigma sui temporis – das Rätsel seiner Zeit: Das Kind von Europa.

 

Mayer/Tradowsky sehen in Kaspar Hauser eine Herausforderung für die abendländische Welt. Zwar sei die abendländische Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts geprägt von den großen Literaten Lessing, Goethe und Schiller und deren Kampf für Freiheit und Humanität, doch das hätte die Menschen leider nicht vor den Abgründen des 20. Jahrhunderts schützen können. Dem Absturz in den geistlosen Nationalismus sei der Verlust des zuvor bereits entwickelten deutschen Geistes vorausgegangen. Eigentlich jedoch sei es der Sinn für Wahrheit, Gerechtigkeit und Würde, der den deutschen Volksgeist ausmache. 

 

Kaspar Hausers Schicksal ist den Anthroposophen ein Beispiel dafür, wie das menschenzerstörende Prinzip des Satanischen wirksam wird. Das eingekerkerte Kind, der gemordete Jüngling, das verhinderte Leben, der geleugnete Geist, all das sei ein Ausdruck für das Prinzip des Bösen.

Die Hoffnung der Anthroposophen liegt bei Jesus Christus. Er überwinde das satanische Vernichtungsprinzip. Durch und mit Jesus Christus wandele sich der Tod in Leben. 

Kaspar Hausers Leben sei vollkommen gewesen, so Mayer/Tradowsky 1994, insofern als es die reine Kindhaftigkeit, das Siegel höchsten Menschentums in sich getragen habe und sei doch unvollkommen gewesen, weil das freie Individuum sich in ihm nur in Anfängen habe regen können. Die Heilung durch Christus vollende sich, wenn Unschuld und Reinheit des Kindes durch die freie Individualität wiedergewonnen würden. Die Entwicklung hin zur freien Individualität aber sei bei Kaspar Hauser durch vielerlei negative Einflüsse zurückgedrängt worden.

In diesem Kinde Europas, das Humanität und somit die Überwindung der Trägheit des Herzens einfordere, sehen Tradowsky und Mayer die Werdekraft für eine vom pfingstlichen Geist durchdrungene Gemeinschaft der Völker Europas.

Die Zukunft Europas liege in der Rückbesinnung auf seine Beziehung zur geistigen Welt.

 

Unternehmen wir nun den Versuch, den von Wassermann literarisch fixierten Begriff „Kaspar Hauser – das Kind von Europa“ auf heute anzuwenden und den Faden von Mayer und Tradowsky weiterzuspinnen.

 

Kaspar Hauser – ein humanitärer Weckruf an das moderne Europa? 

 

Verbrechen an Kindern geschehen schrecklicherweise beinahe täglich, überall auf der Welt und auch in Europa. Missbrauch, Kinderpornografie und das Kriegs- und Flüchtlingselend sind die zuletzt meist beachteten Vergehen an Kindern. Auch eine jahrelange Einkerkerung von Kindern geschieht immer wieder. Ich erinnere an die Fälle Fritzl und Kampbusch oder an die jüngste Meldung: 58-Jähriger soll Kinder jahrelang isoliert haben. Für all die Kinder, deren großes Leid nur zum Teil ermessbar und ergründbar ist und für all die Kinder, denen mit einem an ihnen ausgeübten Verbrechen Vergangenheit und Zukunft genommen wurde und für all die Kinder, die sich der Umwelt niemals wirklich verständlich machen können, die fremd bleiben, mag das Schicksal von Kaspar Hauser prototypisch sein oder auch archetypisch, wenn man es als Mythos begreift. Kaspar Hauser war ein deutscher und zugleich europäischer Fall und als solcher war es die deutsche und auch die europäische Gesellschaft, die in die soziale Pflicht genommen wurde. Häusliche Obhut, Sprache, Erziehung, Lebensunterhalt, Mündigkeit und Rechte und bei allem menschliche Wärme bildeten das Aufgabenfeld, das man dem Findling angedeihen lassen musste. Kaspar Hauser – das Kind von Europa bedeutet: Er gehört zu uns! Und wenn man seinen Fall exemplarisch nimmt, so mit ihm alle die Kinder, die durch Unrecht Schaden genommen haben und auf Schutz und Fürsorge angewiesen sind.

 

Bevor wir uns der Frage widmen, welche Botschaft von der Figur Kaspar Hauser für das moderne Europa ausgehen mag, hier zunächst ein kurzer Überblick über das Europa des 21. Jahrhunderts, seine jüngere Geschichte und seine neuen Herausforderungen.

 

Europa ist ein Zusammenschluss von Ländern, die aus den unseligen Konflikten europäischer Geschichte ihre Lehre gezogen haben, was sich seit 1945 in einem demokratischen System und in einer Rechts- und Gesetzesgrundlage niederschlägt, basierend auf Aufklärung und Menschenrechten. 

In einer klaren Verurteilung des Imperialismus und des Faschismus und in Absetzung vom Kommunismus bildete sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa in Anlehnung an Amerika 1. ein individual-freiheitliches System heraus, das vom Optimismus bezüglich individueller Mündigkeit und Entfaltung und von sozialer Verantwortung geprägt war, und 2. ein kapitalistisches System, das innerhalb des gesetzlichen Rahmens auf freie Initiativen hinsichtlich Fortschritt, Technik und Handel setzte.

Es wurde eine Rechtsgrundlage geschaffen, die den gesetzlichen Schutz, die Bildung, das Auskommen, den Besitz, die Meinungsfreiheit und die freien Wahlen sicherte. Diese Rechtsgrundlage bildet das Grundgerüst des modernen europäischen Sozialstaates.

Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 ergab sich im Osten Europas die Erosion des Staatssozialismus und ein neues Bewusstsein für die Freiheit des Einzelnen, für seine Rechte und Pflichten in der Gemeinschaft. Es wurden neue Akzente gesetzt: Friedenssicherung, Demokratisierung, Wohlstand und in jüngster Zeit der Schutz der Umwelt und des Klimas.

Wir müssen leider feststellen, dass etwa seit 2015 die bindenden und integrierenden Kräfte Europas wieder abnehmen. 

Mit einer globalen Migrationskrise, von der das wirtschaftlich starke, freiheitliche und plurale Europa in hohem Maße betroffen ist, bilden sich nationalistische und fremdenfeindliche Gruppierungen. Die europäischen freiheitlichen Errungenschaften geraten ins Kreuzfeuer von Ideologien. Will man sie retten, so bedarf es im pluralen Europa einer verstärkten und bewussten Solidarität. Europas Demokratien sind heute mehr denn je auf mündige Bürger angewiesen, die die Mitte zwischen den Extremen gegen einfache Lösungen oder halbierte Wahrheiten verteidigen, solche, die die Mühen des Argumentierens auf der Basis von Kenntniserwerbung nicht scheuen. 

Europa begreift sich heute als plurale Lerngemeinschaft.

 

Die europäischen Demokratien stehen nunmehr vor großen Herausforderungen. Nicht allein dass sie sich innerhalb ihrer eigenen Grenzen verstärkt gegen fremdenfeindlichen Nationalismus, Antisemitismus und gegen religiösen Konservativismus zur Wehr setzen müssen, darüber hinaus erfordert der Schutz der weltweiten Ressourcen und des Erdklimas eine Einschränkung der Produktion und des Konsums zu Gunsten von emissionsarmer Lebensgestaltung und von Forschung. Das Kapitalistische Europa ist heute an einem Punkt angelangt, wo die Probleme der Welt, die soziale Ungerechtigkeit, die Digitalisierung und der Klimanotstand die Regierenden dazu zwingt, dem Liberalitätsgedanken neue Rahmenbedingungen zu setzen und weltweit vermehrt die Zusammenarbeit mit anderen Ländern zu suchen. Die Sorge für das Wohl der Gemeinschaft und für die Hilfsbedürftigen ist nicht mehr nur in den eigenen Grenzen zu sehen, sondern in der Verklammerung mit der Weltlage.

 

Kommen wir zurück zu Kaspar Hauser. Welche Botschaft geht von ihm an das heutige Europa aus?

 

Aus dem Nirgendwo war er aufgetaucht, seine Vergangenheit und seine Herkunft blieben im Dunkel.

Ein mittelloser Fremder, der Sprache nicht mächtig, ein anstrengender Mitmensch, einer, bei dem man bei Null anfangen musste, einer, der ein Zuhause brauchte, ernährt und erzogen werden wollte, einer, der Kosten und Mühe verursachte. Er war einer, der über die Sozialhilfe hinaus persönliche Zuwendung und Liebe brauchte. Er brauchte Menschen, die bereit wären, Opfer und Risiken auf sich zu nehmen, solche, die ihr Herz sprechen ließen. Von Kaspar Hauser geht der Appell aus, sich dem Unglück der Mitmenschen nicht zu verschließen, sich zu kümmern, die Trägheit des Herzens zu überwinden. Es kommt darauf an, diesen Menschen aus seiner Verlassenheit hinaus zu führen, ihn in seinen Möglichkeiten zu sehen, ihm Zukunft zu geben, ihm einen Begriff davon zu vermitteln, was Menschsein im positiven Sinne ausmacht.

Das besagt, dass der Mensch dafür eine Anstrengung gegen das eigene Ego und das eigene Phlegma unternehmen muss, dass er sich einen Ruck geben muss, dass sein Mitdenken, seine Empathie und sein Engagement gefragt sind. Ein Lohn dafür wird nicht in Aussicht gestellt, darf aber als integrativer Bestandteil der guten Tat gelten.

Die wichtigste Botschaft, die von Kaspar Hauser ausgeht, ist die, die Trägheit des Herzens zu überwinden. 

 

Die Künstlerin Ans de Groot kümmert sich in besonderer Weise um Tiere, die in Not geraten sind. Sie hebt jeden Vogel mit gebrochenem Flügel auf und trägt ihn nach Hause. Was aber ist, wenn ein ganzer Vogelschwarm in ein Windkraftfeld oder in einen Ölteppich geraten ist? Dann reicht die Hilfe eines Einzelnen nicht mehr aus, dann muss gemeinschaftlich gehandelt werden. 

Der von Kaspar Hauser ausgehende Appell, gegen die Trägheit des Herzens anzugehen, richtet sich an den Einzelnen und zugleich an die Gemeinschaft. In diesem besonderen Fall ist es die europäische Gemeinschaft, denn dieses geschundene Kind tauchte vor 200 Jahren im Herzen Europas auf. 

 

In einer Zeit globaler Herausforderungen und der Anfeindungen von außen und von innen braucht Europa heute mehr denn je eine starke Bindekraft, das Bewusstsein von Zusammengehörigkeit, das Einstehen für seine freiheitlichen Werte, den Willen zur Bildung und die Bereitschaft zu freiwilliger Hilfeleistung. 

 

Europa fußt auf der orientalischen Kultur, was sich nicht nur in seinem Mythos, sondern auch in den Sprachbildern des Christentums ablesen lässt. 

Heute ist Europa ein multikultureller und multireligiöser Schmelzstiegel mit historisch gewachsenen Schwerpunkten. Es denkt grenzüberschreitend. Seine Kraft gewinnt es aus einem aufgeklärten, menschenfreundlichen und liberalen Weltgeist und aus der Kraft die Probleme anzupacken und ihre Lösungen im ständigen Wandel der Verhältnisse zu suchen.

Man sollte nicht vergessen, dass das heutige Europa das Ergebnis harter Arbeit und eines festen politischen Willens seiner Bürger ist.

 

Kaspar Hauser – das Kind von Europa! 

Nehmen wir ihn auf! Integrieren wir ihn in unser Sozialsystem! Lassen wir ihm Erziehung und Bildung zukommen! Nehmen wir ihn als Individuum wahr! Schenken wir ihm Empathie! Auf dass er ein mündiger und verantwortungsbewusster Mitbürger wird, der gewillt ist, den Kampf gegen die Gleichgültigkeit aufzunehmen.

 

Wir stehen in einer Galerie, in der vier Werke zum Mythos Kaspar Hauser ausgestellt sind. Sie spiegeln unterschiedliche Schwerpunkte. Gestatten Sie mir einen kurzen subjektiven Rundumblick auf die Werke.

Annette Bülow arbeitet die Einsamkeit, die Unschuld und die Fragilität eines Kindes in brüchigem Material aus. Die kleinen Figuren fordern den Betrachter heraus näher zu kommen und lassen ihn zugleich innehalten. Man möchte die Hand hilfreich ausstrecken, aber der Raum um das Kind wirkt wie eine Trennmauer, die man nicht zu durchbrechen wagt. Die Dreidimensionalität der Figuren wird zur fotografischen Zweidimensionalität, wodurch bestimmte Blickwinkel auf die Skulpturen herausgehoben werden. Die Verlassenheit des Kindes steht im Focus.

Die holländische Künstlerin Ans de Groot führt den Betrachter in eine surreale Welt. Realitäten gleiten über in Träume und Phantasien. Die Farben und das Licht zerren die Dinge aus dem Dunkel und hüllen sie in eine feine Melancholie. Die Bilder vermitteln eine Welt im Schwebezustand der Bewusstwerdung von Unschuld und Schuld. 

Margarete Kahn stellt eine Traumsequenz vor, die eine Kindheit erinnern lässt und damit das zarte Wachsen und Sich-Entfalten einer Person - eine Kindheit jedoch, die von Anfang an vom Tod gezeichnet ist. Ausgangspunkt ist das kurze schicksalhafte Leben Kaspar Hausers. Dessen Zeichnungen von Pflanzen werden zu Symbolen für das Werden und Vergehen. Durch den Wandel in gestaltete Schönheit und Melancholie wird diese Traumsequenz aus ihren historischen und biografischen Bezügen gehoben und wird somit zu einer Vision vom Leben in seiner Vergänglichkeit.

Dann ist da ein Steinkubus, der Gefangenschaft und Isolation symbolisiert. Aus ihm heraus erklingt ein musikalisches Sprachbild, welches die psychische Schattenwelt eines von der Welt Ausgeschlossenen abbildet. Äußere und innere Wahrnehmungen, dunkle Vermutungen, Ängste und Phantasien dringen - wie aus dem Unterbewusstsein hervorgeholt – durch die Steinritzen und -höhlen. 

 

Die vier Künstlerinnen laden zu unterschiedlichen Blickwinkeln auf Kaspar Hauser ein. Äußeres und Inneres, Bewusstes und Unbewusstes, Vermögen und Unvermögen, Leben und Tod werden zu einem Gefüge, das den Mythos Hauser ausleuchtet. Hier wird auf künstlerischem Wege vor Augen geführt, was Menschsein in seiner Tiefe heißt: die Würde des Einzelnen und zugleich die Würde der Menschheit bewahren!

In diesem Spannungsfeld stellt „das Kind von Europa“ vor spezifische, von Geschichte und Kultur geprägte Aufgaben: politische, soziale, mitmenschliche und geistige. Heute macht die kulturelle Vielfalt das besondere der europäischen Staatengemeinschaft aus. Über alle nationalen und sprachlichen Grenzen hinweg sollte Europa weiterhin ein Resonanzraum für die Freiheit des Geistes, für Solidarität und Humanität sein. Das Kind ist Prüfstein. 

 

Kaspar Hauser – 1812 – 1833

Ich möchte meinen Vortrag mit einem Zitat von Augustinus beenden:

Groß ist sie, die Kraft des Gedächtnisses; gewaltig ist sie, mein Gott, ein weiter, ein unendlicher Innenraum. Wer erreichte je seinen Grund?“ 

 

Der Vortrag stützt sich auf folgende Zeitungsartikel:

 

NZZ 10 – 2019 Wir brauchen eine Idee Prof. Jan Assmann „Der europäische Traum“

NZZ 9 – 2019 Auf kommunikativen Abwegen Jean Claude Juncker

SZ 9 – 2019 Was Europa ausmacht Stefan Kornelius

NZZ 10 – 2019 Den europäischen Traum durchsetzen Aleida Assmann 

NZZ 10 – 2019 Eine fundamentale Liberalisierung... Tobias Rupprecht

 

 

Ein Zitat aus dem Aufruf des Bürgermeisters Binder:

„Sein reiner, offener, schuldloser Blick, die höchste Unschuld der Natur, die keinen Geschlechtsunterschied kennt; seine unbeschreibliche Sanftmut; seine alle seine Umgebung anziehende Herzlichkeit und Gutmütigkeit, in der er mit Innigkeit selbst seines Unterdrückers gedenkt; die ebenso aufrichtige als rührende Ergebenheit in all diejenigen, welche häufig mit ihm umgehen und ihm Gutes erweisen; sein Vertrauen aber auch gegen alle anderen Menschen; seine Schonung des kleinsten Insekts, seine Abneigung gegen alles, was einem Menschen oder Tier auch nur den leisesten Schmerz verursachen könnte; und endlich seine ganz außerordentliche Lernbegierde.“ 

 

Eröffnung

Matinee: Kaspar Hauser- das Kind von Europa

Lydia Spiekermann

Annette Bülow

Ans de Groot

Margarete Kahn