Hermann Broch Massenpsychologie

 

Ist die Demokratie suizidgefährdet?

Lydia Spiekermann nähert sich dieser Frage auf der Grundlage einiger Gedanken aus dem Werk „Massenpsychologie“ (1959) von Hermann Broch.

 

Im Rückblick auf den Sieges- und Rassenwahn unter Hitlers Diktatur, hat Hermann Broch 1959 ein Buch geschrieben, das bei folgender Frage seinen Ausgangspunkt nimmt: Wie konnte es geschehen, dass aus einer demokratischen Gesellschaftsstruktur eine Diktatur erwachsen ist, welche das breite Volk in einen Wahn geführt hat? Was hatte die in der Weimarer Verfassung festgesetzte Demokratie derart geschwächt, dass die Menschen der Magie einer demagogischen Verführung verfielen? Hermann Broch geht dieser Frage in seinem Buch „Massenpsychologie“ weniger historisch als vielmehr phänomenologisch auf den Grund und sucht nach den Gegebenheiten, die zu einer Selbstzerstörung demokratischer Strukturen führen. Einen Ausgangspunkt sieht er in einer schleichenden Entfremdung des Bürgers von den letztgültigen Wertprinzipien der Demokratie.

 

Es folgt der Versuch, Hermann Brochs Gedanken mit eigenen Worten wiederzugeben:

 

Grundlegend für demokratisches Denken ist, dass jedem Menschen, darum weil er Mensch ist, Würde zugesprochen wird und Freiheit, so weit sie der Gemeinschaft, welche die allgemeinen Humanitätsprinzipien wahrt, nicht Schaden zufügt. Würde steht mir also zu als Individuum, als Bürger einer Gesellschaft und als Mitglied der Menschengemeinschaft. Freiheitsbedürfnisse werden begrenzt durch die Erfordernisse einer nach Frieden und nach Humanität strebenden Gemeinschaft, ansonsten hoch geachtet und weitgehend in die demokratischen Strukturen eingebunden. In einer gesunden Demokratie lebt der Bürger im Bewusstsein seiner doppelten Funktion als Individuum und als Glied der Gemeinschaft und richtet sein politisches und soziales Verhalten danach aus. Sein Handeln resultiert aus der Einsicht, dass ein Staat dann ein stabiles Gefüge bildet, wenn er die Würde aller Menschen grundsätzlich anerkennt, somit Grundrechte (Bildung, Meinungsfreiheit, Gesundheit, Eigentum, Arbeit...) sichert, und dem Freiheitsbedürfnis seiner Bürger, so weit wie das Gemeinwohl es erlaubt, Raum gibt.

Bei einer schleichenden Entfremdung von der Demokratie gerät der hohe Wert des Ganzen aus dem Blickfeld und macht der Gleichgültigkeit, dem Eigennutz, der Angst oder dem umstürzlerischen Gedankengut Platz. Man entdeckt Lücken und Schwächen im System, welche ein eigennütziges Spiel mit den Regeln der Demokratie zum Teil ungestraft ermöglichen. Suchen sich die Bürger mehr und mehr ihre, vom Gemeinwohl losgelösten Freiheiten, wird damit ein Prozess in Gang gesetzt, der den demokratischen Staat und seine Gemeinschaftsidee unterwandert. Befinden sich die Menschen erst einmal auf dem Pfad des Eigennutzes oder der Ideologie, verlieren die Gemeinschafts- und Humanitätsprinzipien mehr und mehr an Bedeutung. Das aber schafft den Nährboden für eine Wertezersplitterung, aus welcher Chaos, Angst oder gar Panik entspringen können. Gerät aber eine Masse in Chaos und Panik, dann ist sie schnell bereit, sich jedem starken Führerwillen unterzuordnen. Die Diktaturen haben dann freies und erfolgreiches Spiel: Sie erreichen durch eine Vergewaltigung der menschlichen Würde und Freiheit maximale politische Wirksamkeit nach innen und nach außen. Die Unterdrückung von Freiheitsrechten und die diktatorische Machtausübung werden von den in Panik geratenen Menschen als rettende Maßnahmen empfunden. Das Volk verzichtet auf seine Rechte. Die Tatsache, dass es keinen Weg zurück gibt, nimmt es billigend in Kauf.

Entfremdung von den demokratischen Grundwerten löst die Bindungen in der Gemeinschaft, was unter bestimmten Voraussetzungen zu Verunsicherungen führen kann, die sich zu Ängsten und Paniken auswachsen können und nach garantierten Sicherheiten verlangen.

 

Wie lässt sich dieser Prozess, der zum Untergang eines demokratischen Staates führt, verhindern?

 

Demokratie kann nur funktionieren, wenn ihre Bürger mehrheitlich hinter den demokratischen Grundwerten stehen. Sie müssen diese Grundwerte wirklich wollen.

Und Demokratie kann nur funktionieren, wenn die Mehrheit des Volkes ein Bewusstsein für Menschenwürde hat. Dieses Bewusstsein kann auf vielerlei Weise und sollte möglichst auf vielerlei Weise gepflegt werden: durch Bildung, humanitäre Erziehung, nicht-repressive Religionsgemeinschaften, ein soziales Gemeinwesen, soziale Institutionen, demokratische Parteien, Vorbilder, Kultur. Auch die drohenden Abgründe sollten den Bürgern bewusst gemacht werden: Menschheitsversklavung, Chaos, Terror, Rückfall in die Barbarei.

Es gilt jedoch, auch das Vorfeld dieser Abgründe zu beackern: Hat der Mensch es sich nämlich erst einmal im demokratischen System so recht bequem gemacht, so ist es häufig nicht mehr die Freiheit, die ihn vordergründig umtreibt, sondern es ist die ökonomische Sicherheit und die Affektbefriedigung. Ganz lautlos und unbemerkt gerät der Mensch immer mehr in Abhängigkeiten und beginnt, den eigenen Vorteil den demokratischen Humanitätsprinzipien überzuordnen. Sein Engagement richtet sich mehr und mehr auf sich selbst. Ansonsten lässt er den Staat regieren. Er empört sich nur dann, wenn ihn die Missstände direkt tangieren. Der oben bereits erwähnte schleichende Entfremdungsprozess setzt ein.

In einer intakten Demokratie darf der Mensch nicht aufhören sich als Gemeinwesen zu betrachten, nicht aufhören jedem Menschen das Recht zu leben zuzubilligen und nicht aufhören sich von diesem Grundgedanken her in seinem Denken und Handeln leiten zu lassen. Geben wir dem Egoismus zu viel Raum, dann leiten wir den Erosionsprozess der Demokratie ein.

 

Hermann Broch hat einen solchen Erosionsprozess konkret vor Augen. Er hat miterlebt, wie im Nationalsozialismus die zarten Strukturen einer sich entwickelnden Demokratie zerstört wurden, bald alle Humanitätsprinzipien einer Ideologie, die alle Mittel zum Zwecke der Macht einsetzte, weichen mussten, und er musste miterleben, wie sich das Ganze zu einem teuflischen Massenwahn entwickelte.

 

Was genau ist ein Massenwahn? Auf diese Frage konzentrieren sich Brochs analytische Beobachtungen, die ich im Folgenden kurz zusammenfassen werde:

 

Der Wahn ist ein in sich abgeschlossenes Wertsystem, welches zu einem Rationalverlust führt, weil es dem offenen und kritischen Denken den Weg versperrt. Taucht der Wahn in einer Gemeinschaft auf, so potenzieren sich die irrationalen Überzeugungen im Gemeinschaftserlebnis, übersteigern sich in ekstatisierenden Momenten, welche dem Einzelnen ein Glücks- und Machtgefühl vermitteln.

Der Massenwahn kann eine neurotische und eine psychotische Komponente haben. Die Neurose ist der Kampf der inneren mit der äußeren Wirklichkeit. Sie ist auf Sieg ausgelegt, sonst verfällt sie der Panik. Die Psychose ist ein geschlossenes Wertsystem, in welchem sich der betroffene Mensch vollkommen sicher fühlt. Er befindet sich nicht in einem Konflikt mit der Realität der Außenwelt, sondern lebt in seinem eigenen Wertesystem, welches er als real empfindet. Ein geschlossenes System verteidigt seine Autonomie, indem es eine in sich geschlossene Logik entwickelt und aus dieser Normen ableitet, die ohne Wenn und Aber akzeptiert werden müssen.

Menschen, die sich in einem geschlossenen System befinden, werden blind für die Realitäten und rutschen, wenn ihre Irrationalkräfte entfesselt werden, leicht ab in einen gefährlichen Wahn.

 

Der Nationalsozialismus hat die neurotischen Ängste des deutschen Volkes ausgenutzt, um die Theorie des Rassismus und des Imperialismus zu implantieren und hat somit den Steigbügel gehalten für den apokalyptischen Reiter mit seinem Gefolge. Nach der Zersplitterung der Werte lockte eine neue Werteinheit, welche die Panik besänftigte und ekstatisches Erleben versprach. Die Massen gerieten in eine Psychose.

 

Hermann Broch beobachtet in der europäischen Geschichte, dass sich aus jeder Wertezersplitterung das Krankheitsbild der neurotischen Ängste entwickelt, welche den Menschen den festen Boden unter den Füßen wegzieht. Die innere Zerrissenheit führt zu Entscheidungslähmungen, zu Depressionen, die eine gute Voraussetzung bilden für das Wachsen irrationaler Denkmuster und überspannter wahnhafter Vorstellungen. Broch beobachtet, dass der Mensch immer wieder im Laufe der Geschichte den Weg der Vernunft verlassen hat und dem Wahn verfallen ist (auch die depressiven Ereignisse auf dem Börsenmarkt sind teilweise auf neurotische Entscheidungslähmungen zurückzuführen), was er auf das Nebeneinander des Dunklen und des Hellen in der menschlichen Seele zurückführt. Immer wieder könne der Mensch sich von der Vernunft leiten lassen, und doch könne er auch immer wieder seinen dunklen Irrationaltrieben anheimfallen.

 

Wenn wir begreifen, dass der Hang zum Wahn im Menschen potentiell angelegt ist, so müssen wir uns fragen, wie wir massenpathologische Verstrickungen verhindern können. Wie kann der Mensch seine Humanitätsprinzipien bewahren?

 

Es braucht dafür nach Hermann Broch auf jeden Fall offene politische Systeme. Der Irrsinn entstehe in geschlossenen Systemen.

 

Hier seine Argumentationskette:

 

Ein offenes politisches System hat die Aufgabe, den Menschen vor seinem eigenen Wahnbefall zu schützen. Es gilt vor allem, der Panik zu wehren, denn in der Panik liegt die metaphysische Ur-Angst vor der Todeseinsamkeit, die der Mensch durch Ekstase betäuben will. Die Panik befördert irrationale Ur-Kräfte. Denen gilt es Formung und Gestaltung entgegenzusetzen. Das Geformte ist sichtbare Todesüberwindung.

Zu dem Geformten gehört auch das Vernunftdenken. Eine Demokratie braucht Führungspersonen, die der Vernunft Gehör verschaffen können. Sie sollen beim Gestalten der Gemeinschaft die tief verankerten Ur-Ängste im Blick haben und ihnen kulturgebundene Werte entgegensetzen, welche frei machen von Hass und Siegesbedürfnis, von kulturzerstörender und humanitätsvernichtender Rationalverarmung, und stattdessen eine angstfreie Ich-Erweiterung anbieten.

 

Ist eine Masse in Panik geraten, so verlangt sie nach der Superbefriedigung. Das demagogische System bietet diese in Form von kollektivem Machtgefühl, Sieg-Ekstase und mystischem Unterbau.

Was aber kann ein demokratischer Staat den Attraktionen der Faschismen entgegensetzen? Mit seiner nüchternen Rationalität, seiner Offenheit und seiner Politik der kleinen Schritte scheint er schlechte Karten zu haben. Die Demokratie wendet sich nicht an die dunklen Triebkräfte in der Menschenseele, sondern will den Menschen zurückführen zur Normalität und zum Bewusstsein der Würde des Lebens. Gegen eine verführerische Werteinheitlichkeit setzt sie regulative Grundprinzipien, die auf Humanität gründen. Sie bindet den Menschen in die Entscheidungsprozesse ein und bleibt somit ein offenes System. Das jedoch verlangt Mitdenken, Engagement, Verantwortungsgefühl und macht häufig komplizierte Prozesse erforderlich, die auf Einsicht und Geduld setzen. In einer demokratischen Gesellschaft sollte jeder Bürger in seiner Persönlichkeit so weit gestärkt sein, dass er die offenen Diskussionen aushält, ihren Wert im respektvollen Austausch der Argumente erkennt, und dem System die Zeit gibt, die Konflikte überlegt anzugehen.

Im Hinblick auf die Grauensfolgen, welche ein Massenwahn nach sich zieht, sollte der Mensch große Anstrengungen unternehmen, seine humane Überzeugung zu festigen und sie in Taten und Haltungen zum Ausdruck zu bringen. Auf der Basis gegenseitigen Respekts sollte er sich für ein friedliches Miteinander innerhalb und außerhalb der demokratischen Gemeinschaft einsetzen.

Eine freie demokratische Gesellschaft ist ein hohes Gut, erfordert jedoch Mühen und Einsatz, welche nur im Mit- und Füreinander sich gegen Diktatur, Willkür, Chaos, Panik und Massenwahn behaupten können.

 

Januar 2016