Goethe: Faust I und II - interpretatorische Ansätze von Lydia Spiekermann
„Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewusst.“
Der Lebensweg des Faust unter ethischen Gesichtspunkten
Goethe zeichnet mit der Figur des Faust einen vielseitig gebildeten Forscher und Dozenten, der seiner Wissenschaften und darüber hinaus seines Lebens müde ist. Faust hat sich in seinen Ambitionen dazu verstiegen, die Weltformel finden zu müssen, den Sinn des Ganzen
380...
Dass ich nicht mehr mit saurem Schweiß
zu sagen brauche, was ich nicht weiß,
Dass ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält.
...
und stellt resigniert fest, dass er nicht einmal einen einzigen Moment des Lebens denken kann, den er dauerhaft machen wollte.
Es sind die Bräuche des Christlichen Glaubens, in welchem er erzogen wurde, die Faust von seinen Selbstmordabsichten zurückrufen ins Leben.
742...
Welch tiefes Summen, welch ein heller Ton
Zieht mit Gewalt das Glas von meinem Munde?
Verkündiget ihr dumpfen Glocken schon
Des Osterfestes erste Feierstunde?
Das NT ist für ihn ein hochgeschätztes Offenbarungsbuch
1217...
Wir sehnen uns nach Offenbarung,
Die nirgends würd`ger und schöner brennt
Als in dem Neuen Testament.
Er nimmt sich jedoch die Freiheit, sich kritisch damit auseinanderzusetzen. Wir nehmen Einblick in seine spielerischen Korrekturen des Joh.-Evangeliums:
"Im Anfang war das Wort." Faust ersetzt „Wort“ durch „Sinn“, dann durch „Kraft“, dann durch „Tat“. (1224 – 1237) Fausts Gedankengang geht also vom Komplexen zum Einfachen. Er will auf Nummer Sicher gehen: und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!
Goethe füllt den Begriff des "Höchsten" mit Schöpfung, Offenbarung und immer auch mit dem Gefühl der absoluten, dauerhaften Befriedigung, der Ruhe, ich möchte erweitern mit dem "Zuhause" (im Christentum: das Paradies, das Woher und das Wohin des Menschen, im Buddhismus: die All-Liebe und alles umfassende Leere und im Hinduismus: die göttliche Urkraft). In Goethes Prolog erscheint dieses "Zuhause" als "Urquell" (323); es ist die Quelle dafür, dass der gute Mensch sich, obgleich in dunklem Drange, des rechten Weges doch bewusst sei. (327) (Dies ist ein Gedanke, den alle fünf Weltreligionen gemein haben: Das ethische Bewusstsein wird zurückgeführt auf den existentiellen Urgrund.)
Hätte der Herr dem Teufel nicht gestattet, Faust vom Streben nach seinem Urquell abzuziehen , so wäre dessen Leben laut Prognose des Herrn mit „Blüt und Frucht“ (311) geziert worden. So jedoch darf der Teufel den Probanden abwärts führen. Im Weiteren bleibt zu prüfen, ob die Voraussage des Herrn sich bewahrheiten wird, dass der Teufel zum Schluss in Scham erkennen wird, dass ein guter Mensch in seinem dunklen Drange sich des rechten Weges wohl bewusst sei. (328-329)
Das Leben des Faust wird also auf ein Bewusstsein hin zu prüfen sein, das im Gewissen seinen Platz hat und sich metaphysisch ausrichtet. Das bedeutet, dass die irdischen Gelüste, die den Menschen treiben, ihm letztlich keine Glückseligkeit vermitteln; der Mensch ahnt um eine höhere Bestimmung.
Das billige Kneipenvergnügen, mit dem Mephisto die Begierden anheizt, kann einen Faust nicht locken. Einem Zauber, der Verjüngung verspricht, kann er jedoch nicht widerstehen, noch weniger den erotischen und sexuellen Reizen eines jungen unschuldigen Mädchens. Der hexische Trunk der Begierde löst in Faust das Jagdfieber und bremst seine Ratio. Faust wird egoistisch. Er fordert den Schatz, die Beute. Dann jedoch, in Gretchens Zimmer, wird er angerührt von der Zufriedenheit in Armut, von der ordnenden Hand, der Reinlichkeit, die er hier vorfindet. Sein Gewissen meldet sich:
2717...
Und du! Was hat dich hergeführt?
Wie innig fühl ich mich gerührt!
Was willst du hier? Was wird das Herz dir schwer?
Armsel`ger Faust! ich kenne dich nicht mehr.
Umgibt mich hier ein Zauberduft?
Mich drang`s , so grade zu genießen,
Und fühle mich in Liebestraum zerfließen!
Sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft?
Und träte sie den Augenblick herein,
Wie würdest du für deinen Frevel büßen!
Der große Hans, ach wie so klein!
Läg, hingeschmolzen, ihr zu Füßen.
Die reine Begierde hat sich offensichtlich mit Gefühl vermischt. Faust kennt sich selbst nicht wieder. Er ist hin- und hergerissen. Er weiß, dass die Begierde ihm kurzzeitige Wonne verspricht, und ahnt, dass diesem unschuldigen Mädchen ein dauerhaftes Liebesgefühl gebührt, das mehr ist als kurzzeitiger Genuss. Dann sucht er sein Begehren zu rechtfertigen, indem er fragt, ob nicht in der Glut die eigentliche Liebe zu suchen sei.
Lass das! Es wird! - Wenn ich empfinde,
Für das Gefühl, für das Gewühl
Nach Namen suche, keinen finde,
Dann durch die Welt mit allen Sinnen schweife,
Nach allen höchsten Worten greife,
Und diese Glut, von der ich brenne,
Unendlich ewig, ewig nenne,
Ist das ein teuflisch Lügenspiel?
Es folgt die Verführungsszene mit entsprechenden Klischees. Goethe setzt aber die beiden Verführer, Faust und Mephisto, deutlich voneinander ab. Auch wenn Fausts Worte einer gewissen Abgeschmacktheit nicht entbehren, so sind sie doch nicht von durchtriebenem Sarkasmus gezeichnet wie die von Mephisto. Eher sind sie die Worte eines Entflammten, der den Boden unter den Füßen verloren hat und den Moment des Genusses als außerhalb aller Zeiten begreift.
3188...
Lass diesen Händedruck dir sagen,
Was unaussprechlich ist:
Sich hinzugeben ganz und eine Wonne
Zu fühlen, die ewig sein muss!
Ewig! - Ihr Ende würde Verzweiflung sein.
Nein, kein Ende! kein Ende!
Faust gerät in den feurigen Kreis von Begierde und Genuss, will ihm entfliehen, sucht Linderung in der Natur.
3325
Verruchter! hebe dich von hinnen,
Und nenne nicht das schöne Weib!
Bring die Begier zu ihrem süßen Leib
Nicht wieder vor die halbverrückten Sinnen!
Und dann die Selbsterkenntnis und Selbstanklage. Er ist der Unbehauste, sie die Behauste. Er hat ihren Frieden untergraben, indem er das Feuer in ihr entfacht hat. (3348-3361)
Während er sich noch einmal dazu entscheidet, das Geschick mit ihr zu teilen, führt dieser Entscheid doch schließlich in die Katastrophe.
Die sexuellen Exzesse der Walpurgisnacht lassen den Faust kalt. Stattdessen treibt ihn das schlechte Gewissen in Wahnvorstellungen von Gretchen. Ihr Elend und der Ekel vor dem Teufel, der ihm abgeschmackte Zerstreuungen bietet, und der sich an Gretchens Verderben "letzt" (Trüber Tag), gibt ihm die Kraft, sich gegen Satan aufzulehnen und den Entschluss zu fassen, Gretchen zu retten. Goethe bewahrt seinen Protagonisten vor Heroentum; er lässt ihn zaudern und zögern zu Gretchen zu gehen. Dann aber ist er zu ihrer Rettung bereit. Dass aber eine Entführung, eine Flucht, für das gläubige Gretchen , das seine Schuld vor Gott begreift, keine Rettung ist, entlarvt Fausts eigentlich gutes Ansinnen wiederum als Irrweg, darum weil er nicht zum Seelenfrieden führen wird.
In Faust II führt Mephisto dem Faust die Gelüste nach Reichtum, Besitz und Macht vor Augen. Faust scheint jedoch auch gegen solche Scheinbefriedigungen gewappnet zu sein. Er steigert seine durch Gretchen angeregte erotische Sehnsucht auf das Ideal weiblicher Anmut hin. Das sieht er in der griechischen Helena verkörpert. Mit Hilfe eines Retortenmenschen, der sich außerhalb des natürlichen Zeitablaufs bewegt, taucht Faust hinunter in die Antike und ihre Mythologie. Er taucht also in die Welt hinab, die das europäische Denken fundamental beeinflusst hat. Aber die Euphorie, die aus der schöngeistigen und erotischen Verbindung zwischen Helena und Faust entstanden ist (personifiziert in einem Sohn), bricht im Überschwang zusammen und zieht die Erkenntnis nach sich, dass Glück und Schönheit sich nicht vereinen lassen. Faust ist wieder in der Jetztzeit. Er versucht, Gretchen zu vergessen, indem er sich in den Tatendrang stürzt. Im Geschaffenen will er Dauerhaftigkeit erreichen. Aber er wird in seiner Zielstrebigkeit indirekt schuldig am Tod zweier alter Menschen. Sie verkraften ihre Umsiedelung nicht. Faust stirbt in der Vorfreude auf seinen Plan, ein irdisches Paradies zu schaffen, das darin besteht, dass viele Menschen in einem freiem Land in Freiheit leben können. Er schwelgt in Vorfreude, glaubt jetzt, den dauerhaften Lebensgenuss gefunden zu haben und verliert damit, gemäß Wette, seine Seele an den Teufel. Immer noch richtet er seinen Blick auf das Diesseits, nicht auf das Jenseits. Am Größenwahn einer Ideologie geht Faust zugrunde. Er ist blind geworden gegenüber aller Not, Schuld und Sorge. Not und Schuld bleiben bis zuletzt außen vor, die Sorge aber schleicht sich im Sterbeprozess leise ein. Öffnet sie dem Verblendeten die Tür des Gewissens? Ist sich Faust am Ende noch des rechten Weges bewusst? Goethe gibt uns nur noch den kleinen Hinweis auf die Sorge. Die Engel aber entreißen dem Teufel die Beute. Sie heben Faust auf in den Himmel, weil er sich immer strebend bemüht habe.
11434
Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen,
"Wer immer strebend sich bemüht
Den können wir erlösen."
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben Teil genommen,
Begegnet ihm die sel`ge Schar
Mit herzlichem Willkommen.
Die Heilige Mutter, Sinnbild mütterlich-weiblicher Religion, führt die beiden Liebenden, Faust und Gretchen, gnädig zusammen. Deren Liebe erfüllt sich also im Leben nach dem Tod. Dem Ewig-Weiblichen, das sich im Wonnegefühl ewig aus Liebe quellender Schöpfung manifestiert, gibt Goethe letzte Bedeutung.
Eingebettet wird dieser Kerngedanke in frei angewandtes christlich-religiöses Gedankengut. Die Mater Gloriosa, die Unberührbare, ist von Himmlischen Heerscharen, von Engeln, Heiligen und mystischem Chor umgeben.
Die Transzendenz ist der Raum der allmächtigen Liebe und der schäumenden Gotteslust. Goethe spricht von der Offenbarung ewigen Liebens, die zur Seligkeit entfaltet (11923). Faust II endet mit einem Hochlied auf die Himmelskönigin, die Herrscherin, die Gnadenreiche, die Unberührbare, die den Verführbaren Trost spendet und sie von den Ketten der Gelüste befreit. In das ihr gewidmete freireligiöse Loblied mischt Goethe jüdisch-christliche Glaubensinhalte. Es wird um Gnade für den nicht mehr getrübten Faust, der zu seiner Geliebten zurückkommt, gebeten. Da Faust gelernt hat, wird er andere lehren und wird selbst von Gretchen belehrt werden. Die Gottesmutter prophezeit, dass Faust dem Gretchen in die höheren Sphären folgen wird. Sie ist den beiden Liebenden gnädig.
Zum Schluss weist Goethe darauf hin, dass er mit "Faust" den Versuch unternommen habe, exemplarisch an einem historischen Geschehen Unbeschreibliches zu beschreiben. Er endet mit den Worten, dass das Ewig-Weibliche der Motor allen Strebens sei.
Ist Faust ein christliches Theaterstück?
Goethe stützt seine Tragödie auf christliche Begriffe, Inhalte und Bilder. Aber christlich meint nicht christlich-dogmatisch. Goethe geht mit dem, was er unter Glauben versteht, sehr frei um.
Im Faust wird Gott als eine freie Größe begriffen, die nicht vom Glauben der Menschen her zu erfassen ist (s. Marthens Garten). Der Mensch kann nur im Gefühl der Seligkeit ein ewiges Geheimnis der Welt erahnen. Die Gnadenlehre, das Spezifikum des Christentums, ist am Ende der Tragödie von Goethe fundamental angelegt, aber sie wird weniger von Jesus Christus her verstanden, als vielmehr von der mater gloriosa, der Himmelsmutter, Verkörperung von Reinheit und Unschuld. Der Mütterlichkeit in ihrer Reinform wird als dem bewahrenden Element der Liebe höchster Respekt gezollt.
Die Liebe im Spielfeld von Gut und Böse
Der Herr trennt zwischen einem irdischen Leben des Menschen und einem überirdischen, einem unsterblichen Wesen (Prolog). Das irdische Leben ist geprägt durch Irrtum. Auch ein Mensch, der nach dem rechten Weg strebt, wird in die Versuchung geführt. Die Versuchungen erweisen sich im „Faust“ als Lustgewinn durch Droge, sexuelle Ausschweifung, Schönheit, Reichtum, Macht, Tatendrang. Dem gegenüber steht das Streben nach Erkenntnis.
Das Gute wird nicht als feste Moral definiert.Was der gute Weg sei, bleibt offen. Es wird auch nicht klar umrissen, was unter dem dunklen Drang zu verstehen ist. Gut und Böse erscheinen als zwei Größen, um die der Mensch immer wieder neu ringen muss. Sie werden im Gewissen erkannt, entziehen sich jedoch einem endgültigen Urteil.
Wendet man die beiden Begriffe auf Fausts Leidenschaft zu Gretchen an, so glaubt man zunächst in der sexuellen Begierde den dunklen Drang sehen zu müssen und in Treue und Verantwortung den rechten Weg. Aber Faust gerät darüber in Zweifel; er fragt sich , ob denn die brennende Leidenschaft ein teuflisches Lügenspiel sein kann.
Wendet man die Begriffe "dunkler Drang" und "guter Weg" auf Gretchen an, so wird die Sache noch schwieriger. Kann das unerfahrene Gretchen seinen Gefühlen misstrauen? Gehorsam gegenüber den moralischen Ansprüchen einer Gesellschaft muss nicht unbedingt den "guten Weg" meinen. So überlässt Goethe das Urteil über Gut und Böse dem Gewissen des Einzelnen und den himmlischen Kräften.
Noch vertrackter legt Goethe die Unterscheidung von Gut und Böse beim Teufel an: Der muss am Ende beschämt feststellen, dass auch er der Leidenschaft anheimgefallen ist; er hat sich von den bübischen/spitzbübschen Engeln verführen lassen. Ein Teufel kann nicht durch das Böse verführt werden. Damit wird die Leidenschaft dem Bereich des Guten zugeordnet. Und es steckt schon eine Portion Humor darin, dass Goethe, während er Mephisto darüber jammern lässt, den Reizen der Engel verfallen zu sein, diese von Liebe, Knospen, Wonne, Herz singen lässt und dass nur Liebende in den Himmel kämen, um dort im Allverein selig zu sein. (11807)
Im Folgenden wird das Gefühl der Leidenschaft als ein gutes, reinigendes, allvereinigendes bezeugt.
11817
Heilige Gluten!
Wen sie umschweben
Fühlt sich im Leben
Selig mit Guten.
Alle vereinigt
Hebt euch und preist,
Luft ist gereinigt
Atme der Geist.
Und einige Zeilen weiter wird die Liebe als die Urkraft der Schöpfung beschrieben, welche Seligkeit erfahren lässt:
11870
Wie stark, mit eignem kräftigem Triebe,
Der Stamm sich in die Lüfte trägt,
So ist es die allmächtige Liebe,
Die alles bildet alles hegt.
...
Sind Liebesboten, sie verkünden,
Was ewig schaffend uns umwallt.
Mein Innres mög es auch entzünden
Wo sich der Geist, verworren kalt,
Verquält in stumpfer Sinne Schranken
Scharfangeschlossnem Kettenschmerz.
O Gott! beschwichtige die Gedanken
Erleuchte mein bedürftig Herz.
...
Steigt hinan zu höhrem Kreise
Wachset immer unvermerkt,
Wie, nach ewig reiner Weise,
Gottes Gegenwart verstärkt.
Denn das ist der Geister Nahrung
Die im freisten Äther waltet,
Ewigen Liebens Offenbarung
Die zur Seligkeit entfaltet.
Weiter unten wird mit der Figur des Doktor Marianus die Himmelskönigin, Jungfrau und Mutter, bei allem, was Christen teuer ist, angefleht, die Liebeslust des Mannes zu billigen und den leicht Verführbaren Gnade und Trost zu spenden. (11989-12032)
Die unschuldige Kraft des Ewig-Weiblichen ist für Goethe Anfang und Ziel der Schöpfung. Im Ewig-Weiblichen liegt das geheimnisvolle Versprechen von Gnade für den, der gesündigt hat.
Auffallend ist, dass die Liebe zwischen Mann und Frau im Faust nicht von Tugenden oder von Gemeinsamkeiten gelenkt wird, sondern vom Reiz des Äußeren, aus dem das Innere strahlt, vom Eros. Der Moment des gegenseitigen Begehrens schafft Seligkeit, verbindet mit der allumfassenden Liebe. Hier wird ein Liebesbegriff vorgestellt, der auf die pulsierende Kraft der Schöpfung setzt. Es ist ein erotischer Liebesbegriff. Er meint die Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern, angestoßen durch die weibliche Anmut, die das Innere spiegelt. Das ist das eigentliche Sujet. Hier liegt für Goethe der Quell des Lebens. Faust wird am Ende zum Heer der Liebenden gezählt. Mit Gretchen hat er Liebeswonne erlebt, die er jedoch nicht festhalten konnte/wollte, die er aber in seiner Erinnerung und bei all seinem Streben nicht mehr los wird. Als ein "leicht Verführbarer" gerät Faust in den Strudel der Irrwege des Lebens. Die Himmelsmutter spendet Gnade, vereinigt die Liebenden und und öffnet die Sicht auf den Herrn. Ihr wird – wie der Gottesmutter im katholischen Glauben - Mittlerfunktion zugesprochen.
Gott bleibt ein fernes Mysterium , das nicht fassbar ist für den Menschen (wie Faust es Gretchen gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte 3432-3458).
Mephisto - in Relation zum Herrn und in Relation zu Faust
Goethe beschreibt die Welt als eine bipolare zwischen Gut und Böse, bzw. zwischen Leben schaffenden und bewahrenden und Leben zerstörenden Kräften. Der Teufel ist der negative Teil dieser Kraft. Er ist das nihilistische, zerstörende Element.
1338
Mephistopheles:
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, dass es zugrunde geht;
Drum besser wär`s, dass nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz, das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.
Der Teufel weiß sich dem Herrn untergeordnet, was man, trotz aller Doppeldeutigkeit, folgenden Worten entnehmen kann:
350...
Mephistopheles:
Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern,
Und hüte mich, mit ihm zu brechen.
Es ist gar hübsch von einem großen Herrn,
So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen.
Die schaffende Kraft wird von Goethe also als die stärkere und übergeordnete angelegt.
Goethe lässt den Teufel, bevor er ihn personifiziert, in Gestalt eines schwarzen Pudels erscheinen. Tierisch, kraus, dunkel, dem Menschen anhängig – das sind die Merkmale der teuflischen Urgestalt.
Personifiziert, nimmt der Teufel die Rolle des Widerparts gegen den nach Erkenntnis strebenden Faust ein. Psychologisch gesehen, wird er oft als Schattenexistenz von Faust begriffen.
Mephisto ist von den platten Verderbtheiten der Welt ermüdet. (4092ff) Er sucht nach neuen zerstörerischen Kräften. Das Böse sucht immer wieder Wege der Erneuerung.
4110
"Frau Muhme! Sie versteht mir schlecht die Zeiten.
Geschehn, Getan! Getan, geschehn!
Verleg sie sich auf Neuigkeiten!
Nur Neuigkeiten ziehn uns an.
Goethe zeichnet Faust und Mephisto als ebenbürtige Gesprächspartner. Mephisto verspricht dem lebensmüden Faust irdische Freuden von dauerhaftem Glück. Faust ist skeptisch. Da müsse der Teufel ihm schon etwas bieten, das die Naturgesetze außer Kraft setzen könne.
1686...
Zeig mir die Frucht, die fault, eh man sie bricht,
Und Bäume, die sich täglich neu begrünen!
Mit Schmeichelein und Blendwerk könne er ihn nicht locken.
Mephisto wird die irdischen Verlockungen magisch aufladen. Mit Sex, Drogen, Reichtum und Macht wird er Faust in Versuchung führen. Wenn aber alles nicht fruchtet, so glaubt er, dass Faust an seiner eigenen Unersättlichkeit zugrunde gehen und somit die Wette verlieren werde. Die Sucht nach dem eigenen Ego, das immer neue Anreize sucht, soll Faust zum Verhängnis werden.
Faust lässt sich auf das Abenteuer ein, bleibt dabei aber im ständigen Widerspruch zu Mephisto. Dafür nun zahlreiche Beispiele:
1716...
(Unterschrift)
Auch was Geschriebnes forderst du Pedant?
Hast du noch keinen Mann, nicht Manneswort gekannt?
2343...
(Hexenküche)
Weh mir, wenn du nichts Bessres weißt!
Schon ist die Hoffnung mir verschwunden.
...
So abgeschmackt, als ich nur jemand sah!
3050
(Straße)
Lass er mich mit dem Gesetz in Frieden!
Und das sag ich ihm kurz und gut:
Wenn nicht das süße junge Blut
...
Du bist und bleibst ein Lügner, ein Sophiste.
Wald mit Höhle
3293
Pfui über dich!
3323
Schlange! Schlange!
3327
Verruchter!
3337
Entfliehe, Kuppler!
3360
Sie, ihre Frieden musst ich untergraben!
Du, Hölle, musstest dieses Opfer haben!
(Trüber Tag)
Hund! Abscheuliches Untier!
...
Mir ekelt`s!
...
Warum an den Schandgesellen mich
schmieden, der sich am Schaden weidet
und am Verderben sich letzt?
...
Rette sie! Oder weh dir!
...
Mord und Tod einer Welt über dich
Ungeheuer! Führe mich hin, sag ich, und
befrei sie!
6190
(Finstere Galerie (Faust II))
Du hast, Geselle, nicht bedacht
Wohin uns deine Künste führen;
...
6203...
Da haben wir den alten Leierton!
Bei dir gerät man stets ins Ungewisse.
Der Vater bist du aller Hindernisse,
Für jedes Mittel willst du neuen Lohn.
Mit wenig Murmeln, weiß ich, ist`s getan,
Wie man sich umschaut, bringst du sie zur Stelle.
10074...
(Hochgebirg)
Es fehlt dir nie an närrischen Legenden,
Fängst wieder an dergleichen auszuspenden.
...
10103
Da grünt`s und wächst`s, und um sich zu erfreuen
Bedarf sie(die Natur) nicht der tollen Strudeleien.
10155
(zur Führerrolle)
Das kann mich nicht zufriedenstellen!
10176
(zu schönen Frauen)
Schlecht und modern! Sardansapel!
10180
Meph.:
Dich zog wohl deine Sucht dahin.
...
Faust:
Mitnichten!
...
Ich fühle Kraft zu kühnem Fleiß.
...
Von allem ist dir nichts gewährt.
Was weißt du was der Mensch begehrt?
Dein widrig Wesen, bitter, scharf,
Was weiß es was der Mensch bedarf?
(zum Sieg)
Was kann da zu erwarten sein?
Trug! Zauberblendwerk! Hohler Schein.
...
(Tiefe Nacht)
Wart ihr für meine Worte taub!
Tausch wollt ich, wollte keinen Raub.
Faust erweist sich als aktiver Gegenspieler.
Es war Faust, der das fromme Gretchen verführen wollte, es war auch Faust, der es retten wollte; beides geschah gegen den Willen des Teufels. Faust will Helene sehen, auch gegen den Widerstand Mephistos. Faust kann sich, anders als Mephisto, an der Natur laben, wenn auch nur kurzzeitig.
Faust lässt sich nicht von Macht und liebestollen Frauen verführen, gegen das Ansinnen des Teufels.
Faust I und Faust II weisen eine Menge Auseinandersetzungen zwischen Mephisto und Faust auf. Faust bleibt dabei tonangebend. Dauerhafte Befriedigung findet er weder in der Macht, noch im Kriegsspiel, noch im finanziellen Gewinn, auch nicht im Glanz verführerischer Frauen und auch nicht im Ruhm. Das alles hält sich für ihn nur an der Oberfläche des Lebens auf. Er sucht den Sinn, die wahre Erkenntnis, die Seligkeit. Interessanterweise bietet ihm Mephisto nichts auf dem sozialen Sektor an. Alle seine Zerstreuungsangebote frönen dem Egoismus. Und wenn Faust am Ende politisch-sozial aktiv wird, indem er ein freies Land für ein freies Volk schaffen will, so entwickelt sich dabei sein Ego zum Größenwahn. Des Menschengeistes Meisterstück (11248) meint er schaffen zu können. Freie Sicht will er auf sein Werk haben. Seine Zielstrebigkeit kennt keine Zweifel, keine Sorge, nicht Not, noch Schuld. Er glaubt, die Dinge regeln/managen zu können und leitet damit den Tod zweier alter Menschen ein. Zwar plant er etwas Großartiges, aber sein Plan gereicht nicht allen Menschen zum Guten. Diese an der Figur des Faust festgemachte Erkenntnis gilt für viele Situationen in der Geschichte der Menschheit. Faust glaubt im Diesseits den Sinn zu finden, nämlich im Kampf um die Freiheit. Dem Tüchtigen, glaubt er, sei diese Welt nicht stumm. (11445)
11447...
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen;
Was er erkennt, lässt sich ergreifen;
Er wandle so den Erdentag entlang;
Wenn Geister spuken, geh` er seinen Gang,
Im Weiterschreiten find` er Qual und Glück,
Er! unbefriedigt jeden Augenblick.
Faust begnügt sich mit dem Weiterschreiten. Nicht das weitgesteckte Erkenntnisziel, sondern die Erkenntnis, die sich aus dem Hier und Jetzt ergibt, scheint ihm jetzt angemessen zu sein. In der Vision, die ihn am Ende umgibt, wähnt er den dauernswerten Augenblick. Es ist aber der Moment seines Todes. Mephisto belächelt diesen Augenblick als schlechten und leeren.
11597...
Was soll uns denn das ew`ge Schaffen,
Geschaffen zu nichts hinwegzuraffen?
Da ist`s vorbei! Was ist daran zu lesen?
Es ist so gut als wär es nicht gewesen,
Und treibt sich doch im Kreis als wenn es wäre.
Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.
Mephisto hält allem menschlichen Schaffen den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen entgegen und erklärt, dass das Ewig-Leere, gemeint ist die Sinnlosigkeit, das Nichts, ihm sinnvoller erscheine als diese ewige Wiederholung von Schöpfung und Zerstörung.
Mephistos Urteil über Margarete
Mephisto erklärt dem nach Gretchen verlangenden Faust, diese sei ein gläubiges unschuldiges Mädchen, über das der Teufel keine Gewalt habe. (2621-2626, 3008) Da Faust jedoch unnachgiebig fordert, lässt Mephisto sich schließlich auf einen Verführungsversuch ein.
2639...
Bedenkt, was gehn und stehen mag!
Ich brauche wenigstens vierzehn Tag,
Nur die Gelegenheit auszuspüren.
Gretchens Rede ist ohne Arg, ganz im Gegensatz zu der von Marthe. Goethe zeichnet in der Figur des Gretchen einen gradlinigen, aufrichtigen, anteilnehmenden, gläubigen Menschen, der sich aber dennoch infolge einer Leidenschaft in Sünde verstrickt.
Ihre Verfehlungen sind folgende:
1. Sie trifft sich entgegen aller inneren Alarmsignale heimlich mit einem fremden Reisenden.
2. Sie lässt sich durch kostbare Geschenke zwar nicht korrumpieren, aber doch begeistern.
3. Sie lässt sich mit Faust ein.
4. Sie gibt ihrer Mutter auf Bitten des Faust hin einen Schlaftrunk, der zum Tod der Mutter
führt.
5. Sie ertränkt ihr Baby.
1 und 2 sind auf ihre Unerfahrenheit und Gutgläubigkeit zurückzuführen, 3 resultiert aus ihrer Verliebtheit, 4 basiert auf ihrer situativen Vertrauenseligkeit, 5 erklärt sich aus ihrer Verzweiflung und aus ihrem Wahnsinn.
Gretchen nimmt ihre Schuld vor der Mutter Gottes an. Sie ist zur Sühne bereit und schlägt darum Fausts Rettungsangebot aus.
2544
Ich darf nicht fort; für mich ist nichts zu hoffen.
4605
Gericht Gottes! dir hab ich mich übergeben!
Sie ruft die Engel zu ihrem Schutz vor Mephisto und Faust herbei. Als Sünderin, die tiefe Reue zeigt, erfährt sie die Gnade des Himmels. Mephisto hat keine Gewalt über sie. Er hat zwar sein Ziel erreicht, hat das Leben des unschuldigen Mädchens zerstört, die Zerstörung ihrer reinen Seele entzieht sich jedoch seiner Macht.
Der Zeitbegriff
Während Mephisto Zeit als ein sich ständig drehendes Rad begreift, wo sich alles nur eintönig wiederholt (eine Übereinstimmung mit der hinduistisch-vedantischen Lehre von der Erlösungsbedürftigkeit aus dem Zeitrad) und er die Leere (Buddh.: Endzustand, selige Ruhe - hier: das Nichts) dem ewigen sinnlosen Werden und Vergehen vorziehen würde, hebt der Chor auf die Linearität von Zeit ab; die Zeit geht vorbei. Stille und Schweigen wie Mitternacht (11592-11593) setzen dem irdischen Leben ein Ende. Die beiden Begriffe bringen Ehrfurcht zum Ausdruck vor einem Lebensende, weisen aber auch auf ein Interim hin.
Fausts Zeitverständnis ist geprägt durch sein Streben, also den Nutzen der Zeit. Er als Hochbegabter und vielfach Talentierter und Studierter hinterfragt, will wissen, will (auch in Gesellschaft des Teufels) erleben, sucht nach der Formel, sucht nach dem Glück. Das Wissen um die Vergangenheit begreift er in seiner Relativität; Faust ist zukunftsgerichtet. Er erlebt in der Liebschaft mit Gretchen einen Moment der Seligkeit, ist aber nicht fähig, ihn dauerhaft zu machen. Er begreift jedoch, dass die Schönheit der Natur Linderung spendet und dass im Spiel der Erotik ein Hauch von Seligkeit erlebt werden kann. Sein Streben lässt ihn der Frage nach dem Prototyp weiblicher Anmut nachgehen. Er weiß, dass sein Schönheitsideal geprägt ist durch die griechische Antike und ihre Mythologie. Der Retortenmensch Homunkulus , der außerhalb des natürlichen Zeitlaufs steht, verhilft Faust, einen Zeitsprung in das Altertum zu unternehmen, aus dem er jäh wieder in seine Zeit zurückgeworfen wird. Mit der Abnahme seiner Lebensdauer lernt Faust, den Moment zu schätzen und zu nutzen. Aktiv will er sein, von Tat zu Tat will er schreiten und seinen letzten visionären Augenblick will er festhalten und dauerhaft machen. Über das Ganze gesehen, lässt sich sagen: Hier liegt ein linearer Zeitbegriff vor, kurzzeitig unterbrochen durch einen künstlichen Zeitsprung in eine fundamentale Epoche. Bis zum Schluss weigert sich Faust, den Blick in die Ewigkeit zu richten; er bleibt diesseitsbezogen. Allerdings gibt Goethe ihm ewige Zeit durch die Gnade der Mater Gloriosa und transzendiert somit das irdische Leben in ein Jenseits, das alle Liebenden verbindet.
Das Ende
Not, Schuld und Mangel lässt Faust nicht an sich heran. Auch die Sorge will er außenvorlassen. Er glaubt, Weisheit in der Erkenntnis gefunden zu haben, dass der Mensch sich nicht nach dem Ewigen ausrichten soll, sondern dass das Diesseitige ihm als Erkenntnisfeld genügen kann.
11450...
Faust:
Im Weiterschreiten find` er Qual und Glück,
Er! unbefriedigt jeden Augenblick.
Die Sorge weiß um ihre Macht angesichts des sich nahenden Todes.
11424...
Sorge:
Würde mich kein Ohr vernehmen
Müsst es doch im Herzen dröhnen;
In verwandelter Gestalt
Üb ich grimmige Gewalt.
Faust will sich nicht mit dem Jenseits beschäftigen. Und genau an dieser Stelle greift die Macht der Sorge. Faust wird blind. Wer sich nicht um die Endlichkeit sorgt, erblindet. Faust entwickelt im Augenblick, in dem ihn, ohne dass er es weiß, der Tod ereilt, eine Vision für die Zukunft, wodurch er hofft unsterblich zu werden. Er plant ein freies Volk in einem freien Land, welches den Naturgewalten abgerungen werden soll. Er meint, die Spaten der Arbeiter zu hören und hört doch in Wirklichkeit die Spaten, die sein eigenes Grab ausheben. Der nahende Tod entlarvt Fausts euphorische Vision als Trug. Im Genuss der Imagination eines erfolgreichen Projektes glaubt Faust nun endlich den ersehnten Augenblick zu erleben, der imstande wäre, ihm dauerhaftes Glück zu bescheren. Es ist der Moment seines Sterbens. Er verliert die Wette gegen Mephisto. Zynisch spöttelt dieser:
11588...
Den letzten, schlechten, leeren Augenblick
Der Arme wünscht ihn festzuhalten.
Mephisto aber kann sich seiner Beute nicht lange freuen. Er verliert die soeben gewonnene Seele, weil er sich von den bübischen/spitzbübschen Engeln verführen lässt. Er erfährt brennende Leidenschaft.
117803...
Welch ein verfluchtes Abenteuer!
Ist dies das Liebeselement?
Der ganze Körper steht in Feuer,
Ich fühle kaum, dass es im Nacken brennt.
Beschämt muss er zugeben, dass die Torheit der Liebe sich seiner bemächtigt hat. (11838)
Man erinnere sich der Prophezeiung des Herrn (Prolog):
327...
Und steh beschämt, wenn du bekennen musst:
Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange
Ist sich des rechten Weges wohl bewusst.
Eine Liebschaft macht den klugerfahrnen Teufel zum Tor. Es ist der Moment der Scham. Die Kraft der Liebe hat den Teufel überwältigt, ihn, den das Leben anödet, der um die Nichtigkeit aller Gelüste weiß, den Zyniker. Er erlebt durch die Reize der Engel leidenschaftliche Liebesgefühle. Sein nihilistisches Weltbild bekommt einen Sprung. Gleichzeitig streut der Chor der Engel Rosen, deren Knospen erblühen und dem ruhenden Faust Paradiese bringen sollen. Sie sollen die Liebe vorbereiten. Nur Liebende, singen sie, kommen ins Paradies; die liebenden Flammen erlösen vom Bösen und verhelfen zu Seligkeit.
Heilige Gluten!
Wen sie umschweben
Fühlt sich im Leben
Selig mit Guten.
Alle vereinigt
...
Hier wird von den heiligen Gluten gesprochen, die selig machen und sich mit dem Guten vereint fühlen! Goethe setzt im gesamten Faust, wenn er von Liebe spricht, auf ein von erotischer Anziehung getragenes Gefühl, welches, wenn es gepaart ist mit dem Streben nach dem rechten Weg, im Diesseits Momente himmlischer Seligkeit schenkt und im Jenseits gnadenhaft seine endgültige Erfüllung findet.
11854...
Ewiger Wonnebrand,
Glühendes Liebesband,
Siedener Schmerz der Brust,
Schäumende Gotteslust
...
Glänze der Dauerstern,
Ewiger Liebe Kern.
In der Liebesglut ist Gotteslust zu erfahren.
Sind Liebesboten, sie verkünden,
Was ewig schaffend uns umwallt.
Die unschuldige erotische Anziehungskraft ist Ausdruck gewaltiger göttlicher Schaffenskraft in diesem Kosmos. Sie kann mitempfunden werden:
11902
Dass ein Liebender zugegen
Fühlt ihr wohl, so naht euch nur;
Während die Liebe sich in dieser Welt mit ungeheurer Kraft ihren Weg bahnt und in Schrecken versetzen kann, verwandelt sie sich in der höheren Sphäre in reine Seligkeit und trägt in sich die Verheißung, Gott zu schauen. (11932)
Mit Hilfe der himmlischen Liebe, der Liebe heiliger Büßerinnen, konnte Faust dem Satan entrissen werden. Voraussetzung für seine Erlösung ist aber sein strebendes Bemühen um den rechten Weg, um Erkenntnis. Faust hat die Welt hinterfragt. Er hat nicht das billige Vergnügen gesucht, er hat nicht die Hände in den Schoß gelegt, stets hat er sich als einen Sinnsuchenden begriffen. Faust ist ein Mensch, der das Leben in seiner Verklammerung von Geist und Materie bewusst wahrgenommen hat und dabei immer, mehr oder weniger bewusst, geahnt hat, dass der Grund des Lebens noch tiefer liegt, was zum Motor seines Strebens wurde.
Nur die ewige Liebe vermag die Geisteskraft von den irdischen Elementen zu trennen, sagt der vollendetere Engel . (11958)
Der Begriff der Liebe verdichtet sich bei Goethe im Ewig-Weiblichen, das sich in der Himmelskönigin entäußert. In ihr, der Mutter und Jungfrau, zentriert sich alles Lieben. Sie befriedet die Gelüste, sie verzeiht den Büßenden, sie tröstet, sie ist den leicht Verführbaren gnädig. Bei allen christlichen Werten und Glaubensinhalten wird die Himmelskönigin um Gnade für Faust gebeten.
Das Ideal der Liebe liegt in der Reinheit und Unberührbarkeit der Himmelsmutter. Bei ihr ist alle Liebeslust gnädig aufgehoben. Die reine erotische Anziehungskraft ist das irdische Vorfeld der Seligkeit. Aufgehoben aber ist alle Lust in der Gnade mütterlich geprägter himmlischer Liebe.
12000...
Doctor Marianus:
Höchste Herrscherin der Welt
Lasse mich, im Blauen,
Ausgespannten Himmelszelt,
Dein Geheimnis schauen.
Billige was des Mannes Brust
Ernst und zart beweget
Und mit heiliger Liebeslust
Dir entgegen träget.
...
Dir, der Unberührbaren,
Ist es nicht benommen,
Dass die leicht Verführbaren
Traulich zu dir kommen.
In die Schwachheit hingerafft
Sind sie schwer zu retten;
Wer zerreißt aus eigner Kraft
Der Gelüste Ketten?
Die Büßerinnen bitten die Mater Gloriosa um Verzeihung für Gretchen, die sich einmal nur vergessen, die nicht ahnte, dass sie fehle. (12066)
Hier am Schluss macht Goethe ganz deutlich, dass das Gretchen nicht von niederen Beweggründen geleitet war. Schuldig hat es sich gemacht, aber ahnungslos.
Faust wächst (12076/7), er wird die seligen Knaben lehren, denn er ist ein guter Lehrmeister, weil er durch die Schule des Lebens gegangen ist. Als solcher wiederum wird er von Gretchen, der frommen Büßerin, belehrt werden. Die Gottesmutter führt die beiden Liebenden in höherer Sphäre zusammen.
Wenn er dich ahnet, folgt er nach (12095), sagt sie zu Gretchen. Mit diesen Worten macht Goethe deutlich, dass die Liebe unbedingte Anziehungskraft hat. Am Schluss erfährt der Leser, dass der Liebe Fausts zu Gretchen Dauerhaftigkeit beschieden war und ist. Diese frühe Leidenschaft war mehr als nur sexuelle Begierde. Fausts Liebesgefühle lassen sich durch folgende Textstellen belegen:
2707...
O liebe Hand! so göttergleich!
Die Hütte wird durch dich ein Himmelreich.
...
Mich drängt`s, so grade zu genießen,
Und fühle mich in Liebestraum zerfließen!
3053...
Meph.:
Denn morgen wirst, in allen Ehren,
Das arme Gretchen nicht betören,
Und alle Seelenlieb ihr schwören?
Faust:
Und zwar von Herzen.
Meph.:
Gut und schön!
Dann wird von ewiger Treu und Liebe,
Von einzig überall mächt`gem Triebe -
Wird das auch so von Herzen gehn?
Faust:
Lass das! Es wird! - Wenn ich empfinde,
Für das Gefühl, für das Gewühl
Nach Namen suche, keinen finde,
Dann durch die Welt mit allen Sinnen schweife,
Nach allen höchsten Worten greife,
Und diese Glut, von der ich brenne,
Unendlich, ewig, ewig nenne,
Ist das ein teuflisch Lügenspiel?
In der Walpurgisnacht drängt sich dem Faust wieder Gretchens Bild auf und bewirkt bei ihm ein schlechtes Gewissen. (4184-4205) Er will sie retten. (s. Trüber Tag / Feld)
In Faust II, Hochgebirg, ist Faust wiederum an Gretchen erinnert:
10058...
Täuscht mich ein entzückend Bild,
Als jugenderstes , längst entbehrtes Gut?
Des tiefsten Herzens frühste Schätze quellen auf,
Aurorens Liebe, leichten Schwung, bezeichnet`s mir,
Den schnellempfundenen, ersten, kaum verstandnen Blick,
Der, festgehalten, überglänzte jeden Schatz.
Wie Seelenschönheit steigert sich die holde Form,
Löst sich nicht auf, erhebt sich in den Äther hin,
Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort.
Vorweggegangen ist ein riesiges, göttergleiches Frauengebilde, Leda oder Helena gleich, das sich wieder verflüchtigt hat, aber die Erinnerung an Gretchen weckt. Hier wird deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Liebe zu Gretchen alle späteren Erfahrungen überglänzt. Gretchen erscheint dem Faust als Seelenschönheit. Sie erhebt sich in den Äther und zieht das Beste von Fausts Innerem mit sich fort. Eindeutig ist dies eine Vorwegnahme des Schlusses Wenn er dich ahnet folgt er nach. (12095) Goethe beschreibt die ungeheure Anziehungskraft einer seelenverwandten erotischen Liebe. Der mystische Chor singt am Schluss:
12110...
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.
Die Welt bleibt vergänglich und unzulänglich. Seligkeit liegt in der weiblichen Energie, sich vielfältig entäußernd als anmutige Schönheit, die sich nährt aus der Reinheit und aus der archaischen Kraft mütterlicher Liebe.
Das Werk Faust beschäftigt sich mit den erotischen, mystischen und religiösen Kräften von Mensch und Natur. Entgegen den damaligen kirchlichen Bestrebungen werden diese Kräfte miteinander verbunden. Sie werden abgesetzt gegen abergläubische Tendenzen. Den Glauben an Geister begreift Goethe als mystisch. Der Glaube an Magie, Zauberei und Spuk dagegen gilt ihm als abergläubisch, die Droge als teuflisch verführerisch.
Da Goethe im Faust einen freidenkerischen Glauben vertritt, basierend auf der Kraft des Weiblichen und der Schönheit der Natur und diese mit christlichen Glaubensinhalten verbindet, womit er letzteren andere Schwerpunkte gibt, muss er sich gegen den naheliegenden Vorwurf des Aberglaubens, der zu seiner Zeit in astrologischen Lehren und alchimistischen und medizinischen Irrwegen seinen besonderen Ausdruck fand, absetzen.