Einführungsrede zum Theaterstück „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ nach dem gleichnamigen Roman von R.M. Rilke

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

ich möchte Sie ganz herzlich zu diesem Theater-Abend begrüßen. In meinen nun folgenden Ausführungen berufe ich mich in weiten Teilen auf Texte von R.M. Rilke.

 

Der Roman „Malte Laurids Brigge“ ist ein Buch, das so geschrieben ist, wie man eigentlich keine Bücher schreibt, nämlich bruchstückhaft. Ein reifer und banger und trotziger Mann hat es geschrieben und es ist das Buch seiner Kindheit und es erzählt aus dem Blickwinkel eines lebhaft empfindenden Kindes. Es ist erfüllt von der Schönheit und Hilflosigkeit der Mutter, die früh sterben musste und die das lichte Leben liebte, von einem ordnungsliebenden Vater, der den schönen Frauen huldigte, vom Großvater, der noch richtig erzählen konnte, von den spiritistischen Verwandten, den Geistern der Vergangenheit und von der jungen schönen Tante, die mit ihrer unerfüllten Sehnsucht und ihrer Glückseligkeit erste Gefühle der Liebe in dem Jungen wachruft. Wir erfahren von der unseligen Begegnung mit einem Fremden, der die Lüsternheit weckt, von dem Mann mit Hut, der die innere Zerrissenheit   des jungen Mannes spiegelt und von der Begegnung mit dem auffallend großen Mann, dessen Kaltherzigkeit für die Schrecken der Welt steht. Man streift durch ein Leben von wundersamer Traurigkeit, geprägt von Todesängsten. Es ist in vielen Anklängen das Leben des Dichters R.M. Rilke, der nach den Mustern seiner Kindheit sucht, um Antworten zu finden auf die Frage, warum er das Leben mit seiner Sehnsucht nach erfüllter Liebe nicht bewältigen kann.

 

Rilke ist noch jung, als er den Roman schreibt, etwa 32 Jahre alt.

 

Er wendet sich mit dem Text besonders an junge Menschen, die eine große, dunkle und unbestimmte Sehnsucht haben.

...Das Ziel, sagt er, ist, irgendwie im weitesten Sinne Mensch zu werden. Er will aus der Enge in ein weites und großes Menschentum hineinführen, in ein stilles Verstehen, ernstes Schauen und wehmütiges Lieben aller Dinge. Er sucht nach dem verlorenen Licht, das wie Mondschein über die Dinge wandert.

Schmutz und Gemeinheit und Verbrechen seien nur andere Namen für eine große alte Armut

 

Dort wo das sichtbare Leben zuende ist, beginnt das Leben der Seele, welches das einzig wirkliche Leben ist. Das Mysterium des Seins liegt für ihn in der Selbsterkenntnis oder darin, sich selbst zu kennen, die eigene Seele zu einer Welt zu erweitern.

 

Weise sein heißt vor allem lernen, glücklich zu sein, Glücksmöglichkeiten zu entdecken, Einheitlichkeit in den Seelen hervorrufen. Im Lichte der Seelen werden wir uns besser verständigen und einander besser helfen. Denn mit den Seelen steigt eine tiefe und große Gemeinsamkeit in uns auf, von der keiner ausgeschlossen ist. In dem großen Einen versöhnen sich die Unterschiedenen.

 

Der Roman „Malte“ ist das bedeutendste Prosawerk Rilkes. Zugleich rückt Rilke mit ihm in die vorderste Reihe moderner deutscher Autoren. Der Ich-Erzähler zeichnet Erfahrungen, Erlebnisse, Träume und Ängste auf. Malte, ein junger Däne aus verarmtem Adelsgeschlecht, ist eine erfundene Gestalt mit starken Anklängen an Rilkes Biografie. Entscheidender Grundzug ist das Bruchstückhafte der Aufzeichnungen. Die fragmentarischen Episoden sollen sich gegenseitig ergänzen. Mit diesem Konzept wird dem Verlust eines geschlossenen Weltbilds Rechnung getragen. Die Verunsicherung durch eine unüberschaubare Wirklichkeit wird zum Ausdruck gebracht. Rilke schreibt:

Was in Malte Laurids Brigge ausgesprochen, nein, gelitten steht – das ist ja eigentlich nur dies: Wie ist es möglich zu leben, wenn doch die Elemente dieses Lebens uns völlig unfasslich sind? Wenn wir immerfort im Lieben unzulänglich, im Entschließen unsicher und dem Tode gegenüber unfähig sind, wie ist es möglich, da zu sein?

 

Indem er sich aufmacht, seine Kindheit in der Erinnerung noch einmal zu leisten, vollzieht Malte gleichsam den künstlerischen Prozess des Formens. Er wird zum Schaffenden, der sich erst im Nebeneinander der Aufzeichnungen mosaikartig zusammensetzt. Die Frage nach der möglichen Zusammensetzung des Lebens geht als Aufgabe an den Leser und heute an Sie, die Zuschauer, über. Rezipieren des Kunstwerks ist zugleich Zeugung.

 

Die Modernität des Romans konnte sich in ihrer Bedeutung erst allmählich durchsetzen. Einige Rezensenten sahen schon früh die außerordentliche Kraft der lyrischen Sprache dieses Romans. Für andere wurde das Buch zum Kultbuch. Der Germanist und Übersetzer Bernard Lotholary stellt 1993 fest: „Es ist ein schwieriges Buch, doch man versteht heute, dass dieser erste Roman der Moderne zugleich einer der schönsten ist.“

Nach Beendigung des Malte sieht Rilke sich in einer Art Krisis. An seine Geliebte Lou Andreas Salomé schreibt er 1911:

Je weiter ich den Malte zuende schrieb, desto stärker fühlte ich, dass es ein unbeschreiblicher Abschnitt sein würde, eine hohe Wasserscheide, wie ich mir immer sagte; aber nun erweist es sich, dass alles Gewässer nach der alten Seite abgeflossen ist und ich in eine Dürre hinuntergeh, die nicht anders wird.

Und an anderer Stelle: Ob Malte, der ja zum Teil aus meinen Gefahren gemacht ist, darin untergeht, gewissermaßen, um mir den Untergang zu ersparen, oder ob ich erst recht mit diesen Aufzeichnungen in die Strömung geraten bin, die mich wegreißt und hinübertreibt. Kannst dus begreifen, dass ich hinter diesem Buch recht wie ein Überlebender zurückgeblieben bin, im Innersten ratlos, unbeschäftigt, nicht mehr zu beschäftigen. Vielleicht musste dieses Buch geschrieben sein wie man eine Mine anzündet; vielleicht hätt ich ganz weit wegspringen müssen davon im Moment, da es fertig war.

 

Welcher Untergang ist gemeint?

Zeit seines Lebens geht Rilke wiederholt Liebesbeziehungen ein, von denen er sich bald zurückzieht. Anfangs fühlt er sich hingerissen und geht dann bald wieder auf Distanz, sucht die Einsamkeit, um zu dichten. Die Gräfin von Thurn und Taxis schreibt ihm: „...was brauchen Sie immerfort dumme Gänse? Es kommt mir vor, dass der selige Don Juan ein Waisenknabe neben Ihnen war.“ Aber Rilke liebt die Frauen, er braucht die Liebesglut, denn sie ist die Kraft, aus der seine Poesie entsteht.

Bald aber quälen ihn Identitätsverlust und Versagensängste dermaßen, dass er an eine psychoanalytische Behandlung denkt. Lou Andreas Salomé, zu der er zeitlebens eine tiefe Liebe empfindet, aus der jedoch nur Freundschaft werden darf, rät Rilke von einer Behandlung ab; sie weiß, dass das innere Chaos der Nährboden seiner Dichtung ist.

1912 bricht ein neuer Produktionsschub los. Rilke schafft etwas völlig Neues, das alles Geschriebene hinter sich lässt. Die erste Duineser Elegie ist da. Ein ganzer Kosmos öffnet sich, in dem alle Dinge, selbst der Tod, ihren Platz und ihren Sinn finden. Er überwindet die Krise, die sich nach dem Malte eingestellt hat.

Die Liebende ist in ihrer tiefsten Natur Engel – das ist seine bahnbrechende und befreiende Erkenntnis.

Alle seine Elegien singen den Ruhm der Liebenden. Als Engelslieder kreisen sie um die Genialität des Gefühls der Liebe. Aber die Erkenntnis ist eine Sache, Leben im Sinne der Erkenntnis eine andere.

Immer wieder äußert Rilke Lou gegenüber seine Verzweiflung über seine Unfähigkeit, die richtige liebevolle Einstellung zu einem Menschen und zum Leben zu finden. Er zweifelt nicht daran, dass er krank ist. Er ist furchtbar zerrissen, zerstreut sich im Äußeren und rettet ein Innerstes tief in sich.

Die letzten Jahre verbringt er überwiegend in der Schweiz und in Norditalien. Aber immer wieder zieht es ihn auch nach Paris. Hier erfährt er schließlich so etwas wie eine Heilung des Herzens: das Einswerden mit sich selber. Aus dieser tiefen Erfahrung heraus schöpft er die Kraft für die Vollendung seiner Elegien.

Rilke will lieben dürfen und zugleich Dichter sein. Nur sein Werk rechtfertigt das Sich-Freimachen aus jeglicher Bindung.

 

In den Elegien sieht der Dichter sein Werk zur Vollkommenheit gereift. Er schreibt:

In den Elegien wird das Leben wieder möglich, ja, es erfährt hier diejenige endgültige Bejahung, zu der es der junge Malte noch nicht führen konnte. .

 

Das Schöne des Jenseits ins Diesseits zurückzuholen, das sieht Rilke als die Aufgabe der Dichter.

Das Hiesige recht in die Hand nehmen, herzlich liebevoll, erstaunend, als unser, vorläufig, Einziges

.

Rilke stirbt am 29. Dez. 1926 an einer lange Zeit nicht erkannten, jetzt akuten Leukämie.

 

Das Leben, dieses große Geheimnis, zu rühmen und zu preisen, daran hat Rilke bis an sein Ende festgehalten. Er war überzeugt, dass sein Schaffen allein aus dem Ausgewogensein aller Elemente seines Daseins erwachsen sei.

 

Geist, Körper, Seele- sie waren, als sei keines mehr, keines geringer, jedes köstlich in seiner Art, jedes vertraulich und göttlich zugleich – und die Leistung ergab sich jedesmal an einem geheimnisvollen Höhepunkt ihrer Eintracht.

 

Künstlerisches Erleben steht für Rilke immer auch im Zusammenhang mit dem geschlechtlichen Erleben. Leid und Lust sind zwei Seiten der Sehnsucht und der Seligkeit. Mehr und mehr reift in Rilke der Gedanke, dass es gilt, menschlich zu lieben. Er versucht, diesen Gedanken zu leben und künstlerisch umzusetzen.

 

Wir sind heute zu Gast auf Schloss Plön mit seiner einzigartigen Umgebung. Ich will meinen Vortrag beenden mit Rilkes Gedanken zur norddeutschen Landschaft:

 

Vor etwa zehn Tagen habe ich Paris verlassen, recht leidend und müde, und bin in eine große nördliche Ebene gefahren, deren Weite und Stille und Himmel mich wieder gesund machen soll. Hier ist ein gewaltiges Land um mich, über das von den Meeren her die Winde gehen. Wenn man sich an die Natur hält, an das Einfache in ihr, an das Kleine, das kaum einer sieht, und das so unversehens zum Großen und Unermesslichen werden kann, dann wird einem leichter, einheitlicher und irgendwie versöhnender, nicht im Verstande vielleicht, der staunend zurückbleibt, aber im innersten Bewusstsein, Alle Schönheit in Tieren und Pflanzen ist eine stille dauernde Form von Liebe und Sehnsucht; Oh dass der Mensch ehrfürchtiger wäre gegen das Geheimnis seiner Fruchtbarkeit, die nur

E i n e ist, ob sie geistig oder körperlich scheint. In den Tiefen wird alles Gesetz. Vielleicht ist über allem eine große Mutterschaft als gemeinsame Sehnsucht.

 

Ich wünsche Ihnen einen anregenden Theaterabend.

 

(Lydia Spiekermann, 2012)

 

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