Baruch de Spinoza: Vernünfig Denken und Handeln
Am Dienstag, dem 28. April um 19.30 Uhr
wird Lydia Spiekermann einen Vortrag halten:
„Vernünftig denken und handeln - Baruch de
Spinoza“, musikalisch begleitet von Anri Danielian.
Baruch de Spinoza- Vernünftig denken und handeln
ein Vortrag von Lydia Spiekermann
dazu Fotos aus dem Mikrokosmos, aufgenommen und als Film weiterverarbeitet von Klaus Spiekermann, und Klangimprovisationen von Anri Danielian (wind controller)
Guten Abend, liebe Gäste!
Ich möchte Sie zunächst auf einen Gedankenflug mit zu mir nach Hause nehmen.
Stellen Sie sich Folgendes vor:
Ein altes spitzwinkliges Backsteinhaus, auf dem ersten Stock zwei sehr kleine Zimmer, die einander gegenüber liegen. In dem einen Zimmer ein großes Mikroskop, Objektive, Gläser mit Wasserproben, Pinzetten, chemische Flüssigkeiten und naturwissenschaftliche Bestimmungsbücher. Hier sitzt mein Mann und fotografiert unter dem Mikroskop die Organismen, die er aus den umliegenden Teichen gefischt hat. Er vertieft sich in die Welt der durchsichtigen Kleinstlebewesen, beobachtet ihr Verhalten und analysiert ihre Organe. Es ist eine ungeheuer große Artenvielfalt, auf die man in Volksdorfs Teichen und Tümpeln stößt, ein Reichtum an Form und Farbe.
Im Zimmer gegenüber sitze ich und blättere im Politischen Traktat von Spinoza.
Nicht weit von uns entfernt, sitzt der Musiker Anri Danielian in seinem Proberaum und dringt mit zweckungebundener Neugier in neue Bereiche der Musik vor.
Es ist die Entdeckerfreude, die uns drei antreibt.
Und während ich so sitze und lese und über das Gelesene nachdenke, da vermischen sich auf einmal die Welten der drei Zimmer: Mikrokosmos, Makrokosmos, Naturwissenschaft, Philosophie, Geist und Materie, polyphoner Klang in Zeit und Raum. Ich ahne Zusammenhänge und beginne die Dinge einander zuzuordnen. Das ist der Beginn des nun folgenden Vortrags.
0 Einleitende Musik
Ein Mann von etwa dreißig Jahren sitzt an seiner Werkbank und schleift Linsen für Mikroskope und Teleskope. Der Feinstaub gerät ihm in die Lunge; er hustet. Es ist eine ungesunde Arbeit, mit der er auf sehr bescheidenem Niveau sein Brot verdient. Aber sie ermöglicht ihm einen Blick in die naturwissenschaftlichen Welten zu werfen, in den Mikro- und den Makrokosmos, welche er staunend und ehrfürchtig versucht in ihrem großen Zusammenhang zu begreifen. Sein Wissen ist geprägt durch die revolutionären und bahnbrechenden Erkenntnisse von Galilei, Kepler und Newton: heliozentrisches Weltbild, Gravitationsgesetz, Kausalprinzip, mathematisch-wissenschaftliche Forschung, neu entwickelte Teleskope und Mikroskope ...
Das alles macht auf den jungen, religiös erzogenen Mann tiefen Eindruck und wirft in seinem gescheiten Kopf Fragen über Fragen auf. Ich spreche von Baruch de Spinoza, dem niederländischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, geb. 1632 in Amsterdam, Sohn jüd. Eltern, die aus Portugal auf Grund von Zwangschristianisierung und Verfolgungen in die liberaleren Niederlande eingewandert waren. Eigentlich sollte und wollte Baruch de Spinoza Rabbi werden, doch es kam anders. Er war ein Querdenker. Sein Blick ging über die Lehrmeinung hinaus. Er kritisierte den Dogmatismus der religiösen Lehrsätze und reklamierte eine historisch-kritische Lesart der Heiligen Schriften. Diese, ob jüdisch oder christlich, seien jeweils aus ihrer Entstehungsgeschichte heraus zu verstehen. Um die Texte des Alten und des Neuen Testaments vor Missverständnissen zu schützen, sei es hilfreich zu erkunden, wann sie geschrieben worden seien, wer sie geschrieben habe, an wen sie sich richteten, in welcher Situation sie geschrieben worden seien, um welche Textart es sich handele, wie sie in ihrer Originalsprache lauteten. Die Heiligen Schriften sprächen eine Sprache der Bilder, die, wenn man sie aus ihrem Zusammenhang löse, auch missverstanden werden könnten. Ihr überzeitlicher Wahrheitsanspruch erschließe sich nicht im wortwörtlichen Verständnis der Texte, sondern in der ihnen als Ganzes innewohnenden tieferen Bedeutung, welche immer wieder neu ausgelegt werden müsse. Diese Aufgabe wurde und wird in den verschiedenen Religionen in erster Linie von Religionsgelehrten übernommen. Sie untersuchen einen Text aus seinem historischen und literarischen Zusammenhang heraus und legen ihn zeitgemäß aus. Ihre Kenntnisse und Einsichten sollen den Menschen helfen, die Heiligen Schriften zu verstehen, was im Grunde genommen Sinn macht. Leider jedoch unterlagen und unterliegen auch Religionsgelehrte immer wieder den Gefahren eines erstarrten, unoffenen oder zweckgebundenen Umgangs mit den Schriftzeugnissen. In Folge kam und kommt es zu Bevormundungen und Diskriminierungen von Gläubigen. Baruch de Spinoza war ein kritischer Geist. Er hinterfragte die gängigen Auslegungen der religiösen Texte und wehrte sich gegen Glaubenszwänge. Die hebräische und die griechische Bibel erschlossen sich ihm anders als es die Rabbis seiner Gemeinde und die damaligen Vertreter der christlichen Kirchen lehrten. Er suchte seinen eigenen Weg zu Gott: Es war der Weg der Liebe zur Weisheit, der philo-sophische.
Lassen Sie mich kurz auf ein interessantes Merkmal aus einer uns fremden Religion aufmerksam machen: Die älteste der fünf großen Weltreligionen, der Hinduismus, weist eine Besonderheit auf, die ich als Lehrstück religiöser Toleranz bezeichnen würde: Er kennt vier mögliche Wege zur Wahrheit: 1. der Weg der Askese und Meditation, 2. der Weg der Weisheit, 3. der Weg der liebenden Hingabe und 4. der Weg der rituellen Praxis. Menschen können also nach der hinduistischen Lehre auf unterschiedlichen Wegen die absolute Wahrheit suchen. Diesem Konzept liegt die Einsicht zu Grunde, dass die Menschen unterschiedliche Voraussetzungen haben, den Zugang zum Heiligen zu finden.
Baruch de Spinoza machte sich auf seinen eigenen Weg der Wahrheitssuche. Er war ein genialer Denker und er war ein eigenständiger Denker. Er scherte aus aus dem Glaubenskonstrukt der jüdischen Gemeinde, das seine Grundlage hat im direkten oder vermittelten Zwiegespräch der Gläubigen mit Gott und der Einhaltung und Ausübung von religiösen Pflichten, die das Leben ritualisieren. Er rückte ab vom personalen Gottesbild und von den orthodoxen Glaubensformen, deren Einhaltung strengstens geboten war, da man bestrebt war, den verfolgten Juden in der neuen Heimat eine verbindende Identität zu verschaffen. Spinoza lehnte die Zwänge, denen sich der Gläubige zu unterwerfen hatte, rundweg ab. Er verteidigte einen freien, von den überkommenen Schriftauslegungen unabhängigen, religions-philosophischen Weg der Wahrheitssuche. Die Folge war, dass der junge Baruch mit dreiundzwanzig Jahren wegen Ketzerei aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen wurde. Man belegte ihn mit einem Bann. Hauptverantwortlich für seinen Ausschluss waren die orthodoxen Rabbiner (Saul Levi Morteira). Sie konnten sich gegen die liberaleren Stimmen (Menasseh ben Israel, Isaac Aboab de Fonseca) durchsetzen. Aber auch bei den christlichen Kirchen galt Spinoza wegen Gottesleugnung und kritischem Bibelverständnis als Ketzer. Er wurde zwangsgemieden und zog sich demzufolge in die Einsamkeit zurück. Dort schrieb er inmitten der Schleifwerkzeuge und der Linsen für Mikroskope und Teleskope zuerst ein Buch über Descartes, dann seine drei Hauptwerke: 1. Theologisch-politisches Traktat 2. Abhandlung über den Fortschritt des Verstehens 3. Ethik.
Unterstützt wurde er von freidenkerischen Freunden, überwiegend Wissenschaftlern.
Mit 44 Jahren starb Spinoza vermutlich an den Folgen eines Lungenleidens. Seine Begeisterung für die pulsierende Natur und sein Einsatz für ein verantwortungsbewusstes Leben haben über seinen Tod hinaus, durch die Jahrhunderte und bis in unsere Zeit eine ganz eigene Kraft bewiesen.
1 Musik, Film
Wie ein Mathematiker versucht Baruch de Spinoza mittels von Definitionen, Axiomen, Lehrsätzen, Beweisen und Folgesätzen seine Philosophie logisch zu vermitteln und somit der neuen, seit Galilei sich herausbildenden naturwissenschaftlichen Sicht auf die Welt Rechnung zu tragen. In religiösen Kreisen wurden seine Werke lange Zeit erbittert angefochten und verboten und dennoch setzten sie sich durch: Sie wurden bahnbrechend für die Aufklärung, und sie fanden bei großen Literaten, Philosophen und Naturwissenschaftlern höchste Aufmerksamkeit, darunter Spinozas Zeitgenosse Leibniz, später Lessing, Jacobi, Goethe, Hegel und Einstein.
Waren die Vorwürfe der jüdischen Gemeinde und der katholischen und protestantischen Kirche berechtigt? War Spinoza ein Gotteslästerer, war er, der Religionsgelehrte, ein Atheist?
Lesen wir seine Bücher, so stellen wir fest, dass Gott sehr häufig genannt wird und immer in positiver Konnotation. Wir können also davon ausgehen, dass Spinozas Schriften nicht deshalb Anstoß erregten, weil sie sich gegen Gott wandten, sondern weil darin von einem Gott die Rede war, der von der Gottesvorstellung der damaligen jüdischen und christlichen Lehre abwich und somit, so befürchtete man, die Autorität der religiösen Institutionen untergrub.
Gott ist für Spinoza die Natur der Welt. Das heißt aber nicht, dass, wie so oft behauptet wurde, Gott bei ihm gleichzusetzen wäre mit Natur oder Welt, dass Gott sich sozusagen in Natur und Welt auflöse. Spinoza ist kein Pantheist, sondern ein Panentheist (alles in Gott). Das bedeutet, dass die Welt in Gott enthalten ist, Gott aber weit mehr ist als das, was wir Menschen überhaupt nur von der Welt begreifen können.
Bei Spinoza bekommt der Naturbegriff eine ganz bestimmte Qualität. So wie ich von einem Menschen sage: Es ist seine Natur..., so spricht Spinoza von der Natur der Welt oder von der Natur der Natur und nennt sie Gott. Diese göttliche Natur macht für ihn den eigentlichen, also den wahren Charakter der Welt aus. Sie schenke dem Menschen eine Ahnung von Liebe und Gerechtigkeit, die alle gelebte Liebe und Gerechtigkeit übersteige. Dass er in einer höheren Liebe und Gerechtigkeit die tiefe Gesetzmäßigkeit der Welt begreife, verdanke er, so meint Spinoza, sowohl Erkenntnissen auf Verstandesebene, als auch Offenbarungen.
„Je mehr wir die natürlichen Dinge erkennen, desto vollkommener erkennen wir das Wesen Gottes, das die Ursache aller Dinge ist.“ (P.T. S. 139)
Forschung und Wissenschaft vermittelten dem Menschen die Erkenntnis vom ewigen Gesetz Gottes. Wie zum Beispiel das geometrische Gesetz, welches besage, dass die Summe der drei Winkel eines Dreiecks gleich der Summe zweier rechter Winkel ist, unumstößlich sei, so habe das göttliche Gesetz Notwendigkeit und Wahrheit in sich. Das Dreieck, das durch sich selbst begriffen werden könne, verweise den Menschen auf ein unbedingtes Prinzip, welches dazu angetan sei, zur Erkenntnis Gottes, zur Erkenntnis des unendlich Seienden zu führen.
Darüber hinaus aber könne der Mensch mittels von Offenbarungen, die blitzartig sein Herz berührten, einen Bruchteil der ewigen Wahrheit von Liebe und Gerechtigkeit erfahren.
Es sind also bei Spinoza einerseits vernunftgesteuerte Erkenntnisse und andererseits Offenbarungen, welche den Menschen eine Ahnung von Gott vermitteln.
Ich würde diese Weltsicht Spinozas als eine religiöse bezeichnen. Sie geht für mich über das philosophische Denken hinaus. Sie bindet an einen höheren oder an einen tieferen Sinn, der den Menschen ins Gewissen nimmt und ihn zu ethischem Handeln veranlasst. Das aber ist die gemeinsame Basis aller Religionen.
Der Mensch, so Spinoza, sei jedoch der göttlichen Vollkommenheit gegenüber häufig blind. Statt sich zu öffnen für die Liebe und die Gerechtigkeit, folge er seinen Affekten, seinen Gemütsbewegungen, und lasse sein Denken und Handeln von negativen Begierden bestimmen.
In seinem Buch „Ethik“ beschäftigt sich Baruch de Spinoza mit den an die Affekte gekoppelten Begierden des Menschen, als da wären Reichtum, Ruhm und Sinneslust. Solche Begierden müssten vernünftig und maßvoll genossen werden, andernfalls hinterließen sie große Unlust. Spinoza ist weder ein Lustverächter, noch ein Moralapostel. Er appelliert an ein vernünftiges Maßhalten um der weitergefassten Liebe und Gerechtigkeit willen.
Glück sei nämlich unter dem Blickwinkel der Ewigkeit zu sehen. Die Liebe zu dem, was ewig sei, nähre die Seele mit reiner Lust. Sei jemand gewillt, das Leben nach dem Gebot der Vernunft zu erhalten, offenbare sich darin Seelenstärke; sei jemand gewillt, auf der Basis der Vernunft andere Menschen zu unterstützen und sich ihnen durch Freundschaft zu verbinden, so zeuge das von Edelmut. Es komme bei einem frommen Menschen weniger auf seine Anschauung an, als vielmehr auf seinen Lebenswandel, auf seine Tugend, auf die Wahrhaftigkeit seiner Gesinnung. Spinozas Ethik erklärt sich aus der Weite des Raums und der Zeit. Wer die göttliche Natur der Welt mit Herz und Verstand begreife, werde willens sein, verantwortlich und mitmenschlich zu handeln.
2 Musik / Film
Jüdische und christliche Vertreter haben immer wieder kritisiert, Spinoza löse Gott in der Welt auf. Es bliebe bei ihm nur noch Welt übrig, allenfalls eine vergöttlichte Welt. Er negiere das Jenseits und überhöhe das Diesseits. Damit hat Spinoza in ihren Augen Gott herabgewürdigt.
Nun kann man aber bei Spinoza meiner Meinung nach ganz und gar nicht von einer Entmachtung Gottes sprechen. Gott ist nach Spinozas Lehre der unergründlich tiefe Sinn der Welt, der für die Menschen mittels ihres natürlichen geistigen Lichtes nur bruchstückhaft oder blitzartig zu fassen ist. Bei Spinoza wird Gott nicht zu einer personalen Größe, nicht zu einem Weltenschöpfer, nicht zu einem gewaltigen und zornigen oder barmherzigen und gnädigen Gegenüber. Spinoza spricht in abstrakter und reflektierender Form von Gott; Gott ist für ihn der Weltzusammenhang oder das absolute Prinzip, an welchem der menschliche Geist teil habe.
Konkret wird Spinoza in seiner Verehrung Jesu Christi. Jesus Christus habe in einzigartiger Weise der göttlichen Natur Ausdruck verliehen.
„Die Weisheit Gottes, …. , hat in Christus menschliche Natur angenommen.“ (P.T. S. 47)
Auch die Propheten hebt Spinoza in diesem Zusammenhang besonders heraus. Sie erlebten auf Grund ihres besonderen Vorstellungsvermögens die Gnade von Offenbarungen. (s. P.T. S.47)
Aber selbst das Wort der Propheten unterzieht Spinoza einer historisch-kritischen Prüfung und kommt zu dem Schluss, dass auch die Worte der Propheten nicht Absolutheit beanspruchen könnten. Auch sie unterlägen den historischen Bedingtheiten.
„Ich schließe also, dass wir den Propheten nur das zu glauben verpflichtet sind, was den Zweck und den Kern der Offenbarung ausmacht.“ (P.T. S. 95)
Auch wenn wir nicht immer den Sinn der biblischen Rede ermitteln könnten und vieles im Dunkeln bliebe (s. P.T.S. 251), so könnten wir doch über den tieferen Sinn der Schrift Gewissheit erlangen, sagt Spinoza. (P.T. S. 263)
Gott sei dem Menschen prinzipiell erfahrbar! Jeder könne durch das natürliche Licht die ewige Göttlichkeit erkennen. Dazu bedürfe es keiner mystischen Veranlagung, keiner übernatürlichen Erleuchtung und auch keiner besonderen Intelligenz. Der Mensch sei in der Lage, mittels seines natürlichen Lichtes unumstößliche Wahrheit zu erfahren. Diese Wahrheit mache sich durch absolute Stimmigkeit erkennbar.
Ich habe mich an dieser Stelle gefragt, wann wohl eine solche Stimmigkeit gegeben sein könnte.
Vielleicht, wenn ein Arzt sich entscheidet, nach Liberia zu reisen, um den Ebola-Kranken zu helfen. Vielleicht wenn eine Tochter die demenzkranke Mutter im Pflegeheim besucht und sich zu ihr ins Gitterbett legt. Vielleicht wenn jemand Verzicht übt, um den Mitmenschen vor Schaden zu bewahren.
R. M. Rilke hat unter Bezugnahme auf Flaubert das absolut Stimmige in folgende Gedanken gefasst: „Es kommt mir vor, als wäre das das Entscheidende: ob einer es über sich bringt, sich zu dem Aussätzigen zu legen und ihn zu erwärmen mit der Herzwärme der Liebesnächte. Das kann nicht anders als gut ausgehen.“
„Alles, was wir klar und deutlich erkennen, gibt die Idee Gottes (...) und die Natur uns ein, allerdings nicht mit Worten, sondern auf eine weit vollkommenere Art, die mit der Natur des Geistes völlig harmoniert, ...“ (P.T. S. 35)
Eine solche Stimmigkeit ist wohl kaum normativ zu fassen, sie ist sicher nicht zu erzwingen, sie ist auch niemals in Gänze von außen zu beurteilen. Sie vermittelt sich dem Menschen in seiner ihm eigenen Freiheit.
Erfahre der Mensch, so Spinoza, wenn auch nur bruchstückhaft, die göttliche Natur, so öffne sie ihm den Verstand und das Herz für die Liebe als letzten Sinn der Welt. Das ethische Verhalten, das daraus erwachse, sei von Herz und Vernunft in ihrer Gemeinsamkeit gesteuert und führe zu Glückseligkeit.
Oft wird Spinoza als rein kopfgesteuerter rationalistischer Denker verkannt. In dieser Fehleinschätzung wird das vernunftgesteuerte Denken den Phantasien, Gefühlen, Träumen und Visionen kontradiktorisch gegenübergestellt. In unserer heutigen stark technologisch und wissenschaftlich geprägten rationalen Zeit sehnt man sich vielfach nach einem Leben, das stärker durch Phantasie und Träume bestimmt wird. Spinoza, ein Mann des 17. Jahrhunderts, war dagegen geprägt von der Freude an den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, welche so manches damals vermeintlich gesicherte Wissen – wie z.B. das geozentrische Weltbild, das besagte, dass die Erde der Mittelpunkt der Welt sei, - als bloßes Phantasma entlarvte. Begeistert von den neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und den neuen Einsichten in die Schönheit des Mikro- und Makrokosmos, lenkte er seine Aufmerksamkeit auf den kritischen Verstand und auf die wissenschaftliche Forschung. Der Phantasie stand er skeptisch gegenüber. Sie öffne die Türen für Aberglauben, indoktrinäre Lehren und Ideologien und sie wecke falsche Begierden. Häufig sei sie die Ursache für negative Gemütsbewegungen. Aber wenn Spinoza auch vor den ungefestigten Folgen der Phantasie warnt, so hat er doch auch ihre positive Seite im Blick. Der intuitiven Erkenntnis und der Kunst misst er hohe Bedeutung bei. Der Dichter Joost van den Vondel und die Maler Rembrandt und Vermeer waren von ihm hochgeschätzte Zeitgenossen. Es gelte eben, so Spinoza, auch für die Kunst, das richtige Maß zu finden und der Phantasie, wie allen affektiven Denkprozessen, das Korrektiv einer Vernunft, welche sich an Liebe und Gerechtigkeit orientierte, zur Seite zu stellen.
3 Musik / Film
Immer wieder fordert Spinoza den Menschen auf, an sich selbst zu arbeiten, Herz und Verstand zu bilden, nach dem Gebot der Liebe zu sich selbst und zum Nächsten zu leben, um somit die göttliche Natur der Welt zum Leuchten zu bringen. Um die Affekte zu beherrschen, bedürfe es großer Anstrengung. Man müsse seinen Willen nach festen Grundsätzen des Handelns lenken. Die Vernunft verlange, dass man das suche, was der Gemeinschaft wahrhaft nützlich sei, was zur Vervollkommnung des eigenen Daseins und der Gemeinschaft führe.
„Ich habe mich oft darüber gewundert, dass Leute, die sich rühmen, die christliche Religion zu bekennen, also Liebe, Freude, Frieden, Mäßigung und Treue gegen jedermann, dennoch in der feindseligsten Weise miteinander streiten und täglich den bittersten Hass gegeneinander auslassen, so dass man ihren Glauben leichter hieran als an jenen Tugenden erkennt.“ (Pol. Traktat, S.13)
„Der Glaube eines jeden, ob fromm oder gottlos, ist einzig nach seinen Werken zu beurteilen.“ (ebd. S. 20/21)
„Ich habe gezeigt, dass das göttliche Gesetz, das die Menschen wahrhaft glücklich macht und das wahre Leben lehrt, allen Menschen gemeinsam ist; ja, ich habe es so aus der menschlichen Natur hergeleitet, dass es als dem menschlichen Geist angeboren und sozusagen eingeschrieben gelten muss. … Jesaja lehrt nichts so deutlich, wie dass das göttliche Gesetz an und für sich genommen eben jenes allgemeine Gesetz ist, das in der wahren Lebensweise besteht, .... Er fasst es in wenigen Worten zusammen: Reinigung des Gemüts, Übung und Unterstützung der Armen.“ (P.T. S. 161/162)
Spinoza ruft zur Mäßigung auf. Man solle nur soviel Vermögen ansammeln, als zum Unterhalt des Lebens nötig sei und Vergnügen nur so weit genießen, als es der Gesundheit nicht abträglich ist. Man solle dem Nächsten auf der Basis eines gesunden Vernunftdenkens helfen und als freier Bürger das tun, was für die Gesellschaft das beste ist. Wer sich über das Übel eines anderen freue, kenne nicht die wahre Weisheit, noch den Frieden des wahren Lebens.
„Der freie Mensch handelt nie mit böser Hinterlist, sondern stets mit Aufrichtigkeit.“ (Ethik, S. 483)
„Wer seine Affekte und Triebe aus alleiniger Liebe zur Freiheit zu beherrschen trachtet, der bestrebe sich, soviel er vermag, die Tugenden und ihre Ursachen kennen zu lernen und die Seele mit der Freude zu erfüllen, die aus ihrer wahren Erkenntnis entspringt, nicht aber die Fehler der Menschen zu beobachten, die Menschen durchzuhecheln und seine Freude an einem falschen Schein der Freiheit zu haben.“ (Ethik, S. 525)
Baruch de Spinoza wendet seine Theorie der Vernunft auch auf das Staatswesen an. Für ihn ist die Demokratie die Staatsform, die die Freiheit des Einzelnen am besten gewährt und somit dem vernünftigen Denken Rechnung trägt. (s. P.T. S. 617)
„Die Menschen müssen so regiert werden, dass sie, trotz offenbar verschiedener, ja entgegengesetzter Meinungen, doch in Eintracht miteinander leben. ...
Derjenige Staat ist am freiesten, dessen Gesetze sich auf die gesunde Vernunft gründen; denn in ihm kann jeder, wenn er will, frei sein, d.h. mit ganzen Herzen nach der Leitung der Vernunft leben.“ (P.T. S. 481)
Diktaturen, sagt er, entmündigten den Menschen, führten ihn in eine Verknechtung. Theokratien hält Spinoza für besonders gefährlich, weil sie das göttliche Recht auf sich selbst anwendeten. Das göttliche Recht aber offenbare sich nicht in Staatsformen, sondern in tiefsten unbezweifelbaren Erkenntnissen einzelner Menschen. Eine gute Regierung sollte nach Spinoza den Respekt gegenüber jedem einzelnen Bürger garantieren. Sie dürfe nicht das Instrument sein, Menschen beherrschen zu wollen. In einem freien Staat sollte jedem Bürger erlaubt sein zu denken, was er wolle, und zu sagen, was er denke. (s. P.T. S. 621) Rede-, Meinungs- und Religionsfreiheit müssen für Spinoza unbedingt verteidigt werden. Er ist der Meinung, jeder Geist und Körper müsse innerhalb der gegebenen Gesetze sein eigenes Potential entfalten dürfen. Die Gesetzgebung diene der Wahrung der Freiheit des Individuums und der Gemeinschaft.
Allerdings könne durch Gesetze nicht alles geregelt werden, räumt der Philosoph weise ein, was man nicht verhindern könne, müsse man notgedrungen zulassen. Für Kunst und Wissenschaft fordert Spinoza größtmöglichen Freiraum, da Kunst und Wissenschaft der Vervollkommnung der menschlichen Natur dienlich seien.
Um eine Gesetzgebung komme eine Gesellschaft nicht herum, da die Menschen meist von Begierden und Gemütsaffekten beherrscht seien. Es sollte aber eine Gesetzgebung sein, der die Bürger zustimmen könnten, eine Legislative, die auf mündige, gebildete Bürger setze.
„ Es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen, sondern vielmehr zu bewirken dass ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann, dass sie selbst frei ihre Vernunft gebrauchen und dass sie nicht mit Zorn, Hass und Hinterlist sich bekämpfen noch feindselig gegeneinander gesinnt sind. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.“ (P.T. S. 605)
„Ich gebe allerdings zu, dass diese Freiheit auch zuweilen Missstände im Gefolge haben kann. Aber welche noch so weise Einrichtung hat es jemals gegeben, die nicht irgendeinen Missstand hätte mit sich bringen können? Wer alles durch Gesetze bestimmen will, wird eher zu Lastern reizen als Laster bessern. Was man nicht hindern kann, muss man eben notgedrungen zulassen, wenn auch oft Schaden daraus folgt. Wie viele Übel entspringen aus Üppigkeit, Neid, Habgier, Trunksucht und Ähnlichem! Man duldet sie aber, weil man sie durch gesetzliche Verbote nicht verhindern kann, obschon sie wirkliche Laster sind. Um so mehr muss man die Freiheit des Urteils gewähren, denn sie ist sicherlich eine Tugend, und sie zu unterdrücken ist unmöglich. … Diese Freiheit ist unerlässlich zur Förderung der Künste und Wissenschaften. Denn diese kann man nur dann mit gutem Erfolg pflegen, wenn man ein freies und in keiner Weise voreingenommenes Urteil hat.“ (P.T. S. 611)
4 Musik / Film
Nach Spinozas Überzeugung unterliegt alles Geschehen in der Welt dem Gesetz von Ursache und Wirkung, alles bedingt sich gegenseitig, nichts bleibt dem Zufall überlassen. Dies führt bei ihm jedoch nicht zu einem fatalistischen Defätismus, sondern bleibt ein nüchternes Konstatieren natürlicher Prozesse, in die der Mensch mit seiner jeweiligen Subjektivität eingebettet ist. Der Gedanke, dass der Mensch auf Grund seiner Konditioniertheit zum Roboter degradiert würde, liegt Spinoza fern. Zu jedem Individuum gehören, so lese ich Spinozas Werk, die spezifischen körperlichen und geistigen Bedingtheiten; sie machen die Individualitäten aus. Diese an die Person gebundenen Bedingtheiten stehen im Austausch mit den Bedingtheiten der sie umgebenden Welt. Der Mensch ist bei Spinoza zugleich Individuum und Kosmos. Er hat trotz aller Determinationen Entscheidungsfreiheit und Verantwortung. Eine absolute, also eine von aller Bedingtheit losgelöste Freiheit des Willens liegt für Spinoza allein in der Fähigkeit, Gott, also die der Welt innewohnende Natur, zu bejahen oder zu verneinen.
„Jede Vorstellung irgend eines wirklich da-seienden Körpers oder eines einzelnen Dinges schließt notwendig das ewige und unendliche Wesen Gottes in sich. (Ethik, S. 235)
Dem Menschen, der das göttliche Wesen der Natur anzweifelt, darum, weil es Übel, wie Ekel, Gestank, Missgestaltung, Verderben, gebe, entgegnet Spinoza, dass die Dinge nicht mehr oder minder vollkommen seien, nur weil sie den Menschen gefielen oder nicht gefielen.
Die tiefere Natur der Welt sei vollkommen!
Der Mensch solle danach streben, seiner göttlichen Natur teilhaftig zu werden. Darin allein liege der Sinn seines Lebens. Die Lust sei die Leidenschaft, wodurch der Geist zu größerer Vollkommenheit übergehe. Unlust sei der Übergang von größerer zu geringerer Vollkommenheit. (s. Ethik, S. 277)
Spinozas Philosophie basiert auf Staunen, auf Kenntnissen und Erkenntnissen, auf Selbstbescheidung und Respekt vor dem Geschehen der Natur. Baruch de Spinoza, der aus der menschlichen Gemeinschaft Ausgestoßene, ist ein Mensch, dem sich durch Neugier, Offenheit, Lernwillen und Forscherdrang die Zusammenhänge des Weltgeschehens mehr und mehr erschließen, und der dabei die Liebe als tiefsten Sinn der Welt erfahren hat. -
Zurück zum alten und immer noch gärenden Streit: Ist Spinoza ein Gottesverneiner, indem er nur weltimmanent denkt? Ich gehe das Wagnis ein zu sagen: Spinoza transzendiert die Immanenz, er überschreitet das Diesseitige, indem er ihm eine Tiefe verleiht, die alles Denken übersteigt.
Was macht die Philosophie dieses großen Bahnbrechers der Aufklärung für uns heute noch so interessant? Unsere Welt ist eng geworden. Die Religionen sind dabei, sich von ihren angestammten Kulturräumen zu lösen. Menschen unterschiedlichen Glaubens kommen immer häufiger und intensiver miteinander in Berührung. Das geht jedoch keineswegs immer friedlich ab. Die vernunft- und herzgesteuerte gegenseitige Toleranz, der respektvolle Austausch unter den Religionen ist neuerdings wieder stark gefährdet. Religiöse Überzeugungen werden für ideologische Zwecke benutzt und werden zu Auslösern von Hass und Gewalt. Hinzu kommt, dass viele Menschen, die ihre Anbindung an religiöse Institutionen gelockert oder gelöst haben, fundamentalistischen und abergläubischen Strömungen anheimfallen und sich somit vom freiheitlichen Denken entfernen.
Spinoza glaubt an die Macht des Geistes. Seine Botschaft lautet: Die eigenen Möglichkeiten suchen und entfalten! Herz und Verstand einsetzen! Sich den Fragen der Welt stellen! Verantwortlich handeln! Sich öffnen für die Wunder der Natur! Sich anstrengen! Bescheiden bleiben! Die Welt mit dem Potential des eigenen Lebens liebend begleiten!
„Es gibt niemanden im Alten Testament, der vernunftgemäßer von Gott gesprochen hätte als Salomo, der durch sein natürliches Licht alle seine Zeitgenossen übertraf. … Er hat nun gelehrt, dass alle Glücksgüter für die Sterblichen wertlos seien und dass die Menschen kein größeres Gut hätten als den Verstand und dass es keine größere Strafe für sie gebe als die Torheit. (Sprüche Salomonis, Kap. 16, V. 22) (P.T. S. 93)
Verstand und Torheit verstehen sich hier nicht vom Intelligenzquotienten her, sondern von der Einstellung zum Leben.
Abschließend wendet sich Spinoza der Frage nach dem ewigen Leben zu.
Allein die Liebe, sagt er, die sich von Herz und Verstand leiten lässt, vermag den Tod zu überwinden. Sie schenkt Glückseligkeit und Seelenruhe. Es ist die Liebe, die das eigene Denken und Handeln von der Liebe zum Ganzen bestimmen lässt.
„Aber“, so Spinozas Schlusssatz, „alles Hohe ist eben so schwer als selten.“
Immer wieder wurde ich während meiner Arbeit an diesem Vortrag gefragt: Was fasziniert dich so an diesem Mann des 17. Jahrhunderts?
Es ist Dreierlei:
sein Eintreten für die Freiheit des Denkens, sein tieferes Verständnis für das Leben und seine Entdeckerfreude!
Ein Zitat von Heinrich Heine:
„Bei der Lektüre des Spinoza ergreift uns ein Gefühl wie beim Anblick der großen Natur in ihrer lebendigsten Ruhe.“
5 Musik / Film
(Lydia Spiekermann, 2015)